Von der Kunst des paarweisen Zusammenlebens: Fünf Thesen.

Beratung, Blog, Lebensintegration

I. Über das Zustandekommen eurer Paarbeziehung habt nicht ihr entschieden. Über das Ende werdet ihr ebenfalls nicht entscheiden.

Wenn du beschließt, mit jemandem zusammen zu leben, bist nicht du selbst der Entscheider, sondern die Liebe – in welcher Gestalt auch immer. Möglicherweise hat sie die Gestalt der erwachsenen Liebe zu dir selbst wie zu deinem Partner oder deiner Partnerin. Dann bist du selber dir recht, so wie du grad bist, und deine Liebste ebenso. Möglicherweise ist es die kindliche Liebe zu deiner Mutter oder deinem Vater. Dann legst du deren Bild über deine Liebste, und liebst dein Bild. Möglicherweise klatschen deine Hormone Beifall zum Fortpflanzungsauftrag des Lebens. Dein Liebster ist eben grad da und riecht so gut. Wunderbar!

Es könnte sein, dass es lange funktioniert im Sinne von: Ihr könnt euch gut leiden, der Sex macht Spaß, ihr begegnet euch nicht nur formal in den Einzelheiten des Alltags, sondern findet euch auch im Geiste. Möglicherweise kommen sogar Kinder, und vielleicht übersteht ihr einige Krisen. Bis dahin hilft euch alles, was ihr in euerm bisherigen Leben gelernt habt, in euren Herkunftsfamilien, mit Freunden, Liebhabern, früheren Partnern.

Irgendwann stellt ihr fest, dass alles, was ihr bis jetzt könnt, nicht mehr hilft. Ihr fühlt euch etwa von eurer Partnerin oder eurem Partner zunehmend unverstanden, nicht gesehen, unter Druck gesetzt, allein gelassen. Der Sex ist auch nicht das geworden, was er mal zu sein versprach. So beginnt ihr zu leiden an eurer Beziehung, mehr oder weniger bereitwillig. Wer eher selbstlos aufgewachsen ist, sucht vielleicht die Schuld zuerst bei sich. Andere suchen sie mehr beim Anderen. Du beginnst, dich selber oder den anderen zu bekämpfen. Du suchst dir Fluchtwege, etwa eine Affäre, ein inneres Exil, ein Projekt oder ein neues Hobby.

 

II. Wenn du in deiner Paarbeziehung leidest, leidest du an dir selbst. Deinem Partner ergeht es ebenso, nur eben mit sich.

Innerlich erwachsene Menschen können glücklich, traurig, verzweifelt, fröhlich oder wer weiß was sein, je nachdem, was die konkrete Situation an Emotionen braucht, damit man sie durchleben kann. Sie haben es jedoch verlernt, auf Dauer zu leiden, auch wenn ihnen etwas Schmerzen bereitet.

Wenn man dem Leiden in einer Paarbeziehung auf den Grund geht, findet man entweder einen verzweifelten Jugendlichen, ein ohnmächtiges Kind oder ein Ungeborenes, das sich noch wie im Mutterleib fühlt. Sie alle lieben die, von denen sie abhängig sind, und gleichzeitig lieben sie das Leben in sich selbst, alles völlig unbewusst. Wenn beides in einen Widerspruch kommt, leiden sie. Sie können nicht anders. Sie können nicht weg, sie können weder ihrer Abhängigkeit noch ihrer Lebendigkeit entfliehen. Sie haben also keine Alternative zu ihrem Empfinden und zu ihrem Verhalten. Wenn sie keinen Ausweg sehen, greifen sie zur Notbremse. Für die Paarbeziehung kann dies das Ende bedeuten, ob vollzogen oder nicht. Auch hier entscheidet Liebe. Da meint ein Embryo, Kind oder Jugendlicher, jemanden retten zu müssen, manchmal auch sich selber. Das bedeutet: am Leiden in einer Paarbeziehung ist niemand schuld. Es gibt einfach keine Schuldigen. Es gibt nur Liebe, wenn auch in völlig unterschiedlicher Gestalt.

Wie kommen diese oft verzweifelt liebenden Embryos, Kinder und Jugendlichen in eure Paarbeziehung? Ihr bringt sie selbst mit, und zwar jeder seine. Jeder Mensch trägt seine früheren Lebensstufen in sich umher, als inneren Status, als Körper-Erinnerung, als emotionale Muster, als Denk-Gewohnheiten, als Vor-Urteile, als Grundstimmung u.v.a.m. Fast alle Menschen sind mehr oder weniger damit identifiziert. „Identifiziert sein“ bedeutet, du verwechselst dich und dein heutiges Erleben mit deinem damaligen Erleben als Embryo, als Kind oder Jugendliche, und: du bemerkst diese Verwechslung nicht. Du hältst alles, was du in ihrem inneren Status erlebst, für real, für gegenwärtig und echt. Es ist aber nicht real, es ist nicht die Wirklichkeit. Es ist ein Film aus deiner Vergangenheit, der sich echt anfühlt, es ist ein Traum, sonst nichts. Damals war er das wirklich wahre Leben, heute ist er eine Illusion, die dich vom wirklich wahren Leben fern hält.

Allgemein gesprochen: Du verwechselst dein heutiges Jetzt mit deinem vergangenen Damals. Ich mache das ebenfalls, jeden Tag. Wenn du angesichts deines Partners oder deiner Partnerin leidest, spürst du also etwas lange Vergangenes: vielleicht einen Verzicht des Embryos zugunsten des Körpers der Mutter, vielleicht den ohnmächtigen Schmerz des übergangenen Kindes oder die hilflose Wut der Jugendlichen. Als innere Wächter versuchen sie dich zu schützen, damit sie nicht wieder so verletzt werden wie damals. Aber wie kann das sein? Dein Partner verhält sich doch so, dass du leidest?!

 

III. Die Paarbeziehung aktiviert durch die besondere Nähe zueinander alle früheren Bedrohungen, denen man jemals bewusst oder unbewusst ausgesetzt war.

Dein Partner oder deine Partnerin sind, wie sie eben sind. Du ebenfalls. Niemand kann sich willentlich ändern. Wir sind zu einem Teil sozusagen die Summe unserer Überlebensleistungen, also dessen, was wir in früheren Bedrohungssituationen gelernt haben, zum anderen Teil sind wir das jeweils Einzigartige, was das Leben in uns hineingelegt hat, damit wir es in die Welt bringen. Beides kann sich niemand aussuchen. Der freie Wille ist das Märchen und die Sehnsucht der Jugend, er ist ihr Bewusstseinshorizont. Nebenbei: Die Erfüllung aller Wünsche durch eigenes Wohlverhalten ist das Märchen der Kindheit, das Paradies ist das Märchen der Embryonalzeit. Jede Lebensstufe hat ihre eigene Erfahrungswelt, ihre eigenen Geschichten und ihre eigene Sehnsucht innerhalb ihrer Bewusstseinsgrenzen. Sie wächst immer so lange, bis sie gesprengt wird, weil sie nicht mehr zum wirklich wahren Leben passt.

Die neue Erfahrungswelt, das wirklich wahre Leben, heißt für den erwachsenen Mann und die erwachsene Frau: ich bin verantwortlich für etwas, das ich nicht selbst gemacht habe, nämlich für mich selbst. Das mag sich zunächst wie ein Justizirrtum mit „lebenslänglich“ anhören, ist es aber nicht. Im Gegenteil: es ist der Freispruch erster Klasse. Ich bin nur für mich selbst verantwortlich. Für meinen Partner bin ich nicht verantwortlich. Punkt. Alles weitere würde mich heillos überfordern, und hat es auch. Mit der Verantwortung für mich selbst bin ich allein, denn niemand sonst kann mir etwas davon abnehmen. Schon gar nicht meine Partnerin.

Und die Jugendliche, das Kind oder das Embryo innen drin, die einem immer wieder dazwischenschreien? Der Embryo, das Kind und der Jugendliche in dir empfinden und beurteilen dein heutiges Leben mit deiner Partnerin aus ihrer damaligen Welt heraus, ihrem damaligen körperlichen, emotionalen und rationalen Status, ihren damaligen Möglichkeiten. Sie lieben noch immer auf dieselbe, ihnen damals angemessene Weise. Sie glauben an das Paradies, an die Erfüllung aller Wünsche und an den freien Willen. Sie haben keine Alternative, sie können noch nicht weiter sehen, bisher jedenfalls.

Nun aber, in deiner Partnerschaft, wenn sie sich alle zu deinem Schutz auf den Plan gerufen fühlen, könnten sie bei dir sehen und erleben, dass es jetzt, nach so vielen Jahren, etwas anderes gibt, andere Möglichkeiten, eine echte Freiheit. Sie könnten sehen, dass es sich gelohnt hat, dass es weitergegangen ist. Dein Jetzt ist ganz anders als ihr Damals. Lass sie das sehen. In diesem Sinne bist du für sie verantwortlich.

 

IV. In dem Moment, wo ihr beide euch erlaubt, euch selbst so zu sehen, beginnt etwas völlig Neues. Es beginnt der Anfang vom Ende eures Leidens.

Dein Jetzt ist tatsächlich ganz anders als dein Damals im Mutterleib, in der Kindheit oder in der Jugend. Es gibt zwei wesentliche Unterschiede: Erstens hast du überlebt und bist jetzt relativ sicher. Zweitens bist du erwachsen (Ü 40?), dein Leben hängt also nicht mehr wie damals von deinen Eltern oder anderen mächtigen Bezugspersonen ab. Du bist frei. Was machst du nun damit?

Abhängigkeit erzeugt Orientierung. Daran ist nichts falsch aus der Sicht des Abhängigen. Der Embryo orientiert sich über das körperliche Spüren, das Kind über das Fühlen, der Jugendliche über das Denken. Wohin mit all dem, wenn die Abhängigkeit tatsächlich, also von dem her, „was der Fall ist“ (Wittgenstein), nicht mehr existiert? Wie bringe ich dem aufgeregten inneren Jugendlichen bei, dass er nicht in Gefahr kommt, wenn ich mich z.B. meiner Partnerin ganz zeige? Wie überzeuge ich das panische Kind in mir davon, dass es inzwischen für mich ungefährlich ist, wenn meine Frau mich nicht versteht oder ich sie nicht, ja, dass dies gar nicht möglich und noch nicht mal besonders wichtig ist, weil Männer und Frauen sich selbst und den Anderen auf verschiedene Weise erleben und auch verschieden kommunizieren? Wie zeige ich dem nach Symbiose hungernden inneren Embryo, dass Trennung und Getrenntsein nicht den Tod bedeuten, sondern den Fortgang des Lebens? Es weiß ja nichts vom Leben nach der Geburt.

Woher nehme ich Orientierung, wenn ich von niemandem mehr abhängig bin, außer von dem Leben, das da in mir pocht und atmet? Da kann einem doch schwindlig werden. Wie lässt sich eine Partnerschaft führen, wenn der Andere nicht mehr schuld ist (ein beliebtes Orientierungsmittel), auch ich selbst nicht (noch beliebter)? Wenn wir merken, dass in unserem Streit, in unserem Schweigen, in unserer Verlassenheit, in unseren Grausamkeiten, in allem, was das partnerschaftliche Leidensarsenal sonst noch so bereit hält, einfach nur panische Embryos, Kindern und Jugendliche um ihr Leben kämpfen, also um unser Leben?

Wenn wir das merken, bleibt als einzige Orientierung unsere Lebendigkeit übrig, dieses Atmen und Pochen und eigenwillige Sichregen in uns selbst, immer von Augenblick zu Augenblick. Wir sind es nun, die von da aus unseren verstörten inneren Embryos, Kindern und Jugendlichen als Orientierung dienen können und müssen. Wir können das, indem wir ihnen Recht geben, ohne ihnen zu folgen. Sie brauchen die klare Distanz, sie brauchen den Eindruck: „Ok, ich hätte das nie gedacht, aber da ist jemand Erwachsenes, der mich sieht.“ Der verurteilt mich nicht, der bemitleidet oder hofiert mich nicht, der schaut einfach mal richtig hin. Und der oder die hat offenbar Möglichkeiten, die ich nicht hatte. Der kann sich frei bewegen und tut es auch. Der opfert sein Leben nicht mehr der Mama oder beschränkt sein Glück für den Papa. Der oder die folgt einfach sich selbst, ohne die Partnerin oder den Partner dafür haftbar zu machen.

Sie werden aufatmen, und wie. Der erwachsene Mann und die erwachsene Frau selbst sind die einzige brauchbare Orientierung für unsere früheren Lebensstufen. Nicht der Partner oder die Partnerin.

 

V. Die Kunst des paarweisen Zusammenlebens scheint darin zu bestehen, sich selbst zu lassen, ebenso wie den oder die andere, und ansonsten: die Liebe (machen) lassen.

Wenn ich satt davon bin, mich immer und immer wieder von einer gequälten jüngeren Ausgabe meiner selbst in deren lange vergangenes Leiden ziehen zu lassen, hört es einfach auf. Das ist nicht lustig. Es fühlt ich manchmal an, wie man sich vielleicht das Sterben vorstellt, nur dass man hinterher lebendiger ist als vorher. Ich beginne etwa, meinem inneren Jugendlichen dabei zuzuschauen, was er so macht, wenn die Partnerin sich so und so verhält. Er fühlt sich z.B. jedes Mal bedroht, wenn die Liebste sich abzuwenden scheint. Er weiß ja nichts von meiner inzwischen recht gelassenen Männlichkeit.

Er muss es auch nicht besser wissen. Es genügt, wenn ich es weiß, der Erwachsene. Ich schaue ihm (also mir) bei seinen Rettungsmanövern zu (Rückzug, Gekränktsein, Klammern, Scham, Wut usw.). Ich sage ihm, dass er für mich so in Ordnung ist, weil er auf diese Weise meine Männlichkeit durch die Zeit der (gefühlten) Bedrohung hindurch geschützt und bewahrt hat. Ich warte, bis er zu mir schaut, und zeige ihm, wer ich heute bin. Ein Mann um die Fünfzig. Das ist alles. Dann entspannt er sich. Und sieht, zusammen mit mir, dem Erwachsenen: Die Liebste hatte sich gar nicht abgewendet, es schien nur so. Sie war schlicht mit etwas anderem beschäftigt, was ihr ja zusteht. Ich bin frei, mich ihr zu nähern. Welche Überraschung!

Der Jugendliche hatte schlimm gelitten, für ihn gab es damals keinen Ausweg. Wenn ich heute von ihm „gesteuert“ werde, finde auch ich keinen Ausweg und leide wie er. Aus seiner Perspektive gibt es keine Lösung. Er muss mindestens innerlich weggehen, um weiterleben zu können. Er ist damit im Recht. Ich nicht, ich kann bleiben.

Was mache ich damit? Nichts. Ich lasse mich so. Ich lebe es. Ich kann den Jugendlichen, das Kind oder den Embryo in mir nicht austreiben oder gar „erziehen“. Das wäre auch fatal, ich würde mich um mich selbst bringen. Das Gegenteil ist möglich: ich kann ihn hereinnehmen, seine Erfahrung respektieren und seine Leistung würdigen. Dann lässt er mich entspannt und lustvoll erwachsen sein. Für mein paarweises Zusammenleben heißt das: wir lassen die Liebe machen. Sie kümmert sich eh nicht um unser Leiden, sie ist einfach da.

Wenn ihr die Liebe machen lasst, passiert etwas Merkwürdiges: Euer Paarleben verliert an Sicherheit. Sie wird nicht mehr so gebraucht wie etwa damals von dem Kind, das ihr wart. Sicherheit und Geborgenheit sind berechtigte Bedürfnisse eines Kindes. Euer Paarleben verliert das Symbiotische, den Drang, die Welt durch den Anderen zu erleben und alles „gemeinsam zu machen“. Der Drang nach Veschmelzung gehört zum Embryo, im Leib der Mutter gibt es nichts anderes. Euer Paarleben verliert das Diskutieren, den Kampf der Willenskräfte, den Drang nach Autonomie. Der Jugendliche in euch braucht das, er musste ein eigenes „Ich“ erfinden. Ihr nicht mehr. Was im Alltag nötig ist, wird einfach getan von dem, der grad Zeit und Kraft hat. Was euch bewegt, wird zur Begegnung, wenn es gerade geht. Was lustvoll ist, ergibt sich von selbst aus dem, was ihr an Wünschen in euch spürt und euch mitteilt.

Die einzige Sicherheit beim paarweisen Zusammenleben ist eure Lebendigkeit, eines jeden seine, und die Verbindung, welche die Liebe zwischen euren beiden Lebendigkeiten schafft. Diese Liebe wird sich für eure inneren Jugendlichen, Kinder und Embryos immer wieder wie eine tödliche Bedrohung anfühlen. Sie übersteigt deren Erfahrungshorizont. Sie ist gleichzeitig der Raum, in dem sich genau diese aufgeschreckten inneren Instanzen entspannen können, weil sie gesehen werden. Es geht nur darum, ihnen nicht in ihr vergangenes Leiden zu folgen, sondern da zu bleiben, wo ihr seid, im Hier und Jetzt und beieinander. Wenn das mal nicht klappt, ist es nicht dramatisch, man kann ja immer wieder in die Gegenwart zurückkehren, also das innere Kino verlassen. Das ist die ganze Kunst. Möglicherweise werdet ihr euch noch wundern, so wie ich. Immer wieder.

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