Wilfried Nelles: Die Welt, in der wir leben. Das Bewusstsein und der Weg der Seele. Innenweltverlag, Edition Neue Psychologie. Köln 2020.

Rezension von Thomas Geßner

Vorweg: Dr. Wilfried Nelles aus Marmagen (Eifel) war schon ein international bekannter Systemaufsteller mit einem großen Euvre, als ihm vor etwa zwölf Jahren aus der Aufstellungsarbeit heraus ein elementares und gleichzeitig komplexes Modell der menschlichen Bewusstseinsentwicklung entgegen kam. Dieses Modell fand in seiner Aufstellungsarbeit eine Gestalt im Lebens-Integrations-Prozess (LIP nach Nelles). Darin begegnen sich: die Aufstellungsarbeit, eine von den unmittelbaren Erscheinungen ausgehende Psychologie und Therapie, eine lebensbejahende Spiritualität und das aktuelle moderne Bewusstsein. Sie finden dort hinaus über die ewige Sinnsuche, hinein in eine neue Selbstverständlichkeit des Daseins, hinaus über die Fixierung auf das Pathologische, hinein in die heilende Wirkung unserer Symptome selbst, hinaus über den vergeblichen Versuch, die Kindheit und die Jugend hinter sich lassen zu können, hinein in den gegenwärtigen Moment eines erwachsenen Selbstbewusstseins. Das erwachsene Selbstbewusstsein muss die scheinbare Gegensätzlichkeit von Therapie und Spiritualität nicht länger ausbalancieren. Es folgt einfach sich selbst.

Nun zu Wilfried Nelles’ neuestem Buch: Mit so viel Liebe und Einsicht wie diesen Mann habe ich noch nie jemanden über die Jugend schreiben sehen, über ihre Verzweiflung, ihre Lust, ihre Suche, ihre absolute Kompromisslosigkeit, ihre Vergeblichkeit, ihr Trotz, ihr Mut, ihre Liebe, und in allem immer das Kind, als dessen todesmutiger Wächter die Jugend angetreten ist. Wilfried Nelles beschreibt nicht nur das Phänomen „Jugend“ als das zentrale Paradigma des modernen westlich geprägten Bewusstseins, er sieht vielmehr, wie sie liebt und wie sie scheitert, wie ihre Psychologie, ihre Neurose und ihre Heilung selbst sich aus dem menschlichen Bewusstsein ergeben, und wie die Seele alle, die sich ihr öffnen, durch sie hindurch führt.

„Die Jugend“ als Bewusstseinsmodus, als eine klar erkennbare Art und Weise, in der Welt zu sein, sich selbst zu erleben, zu gestalten und erschaffen zu wollen und sich gleichzeitig der natürlichen, gegebenen Wirklichkeit seiner selbst und der Welt völlig zu verweigern, ist aus meiner Sicht das Eingangstor in Wilfried Nelles’ Modell von der Evolution des Bewusstseins und in seine Weise, in den Aufstellungen am Leben selbst zu lernen und sich vom Leben bilden zu lassen. „Die Jugend“ als Komplex aus psychologischen und körperlichen Dynamiken bestimmt das gegenwärtige moderne Bewusstsein. Im Lichte ihres Paradigmas wird sichtbar, wie das gegenwärtige moderne Bewusstsein funktioniert, genauer, wie wir selbst darin funktionieren, welche Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen es uns vorgibt. Es wird ebenfalls sichtbar, wie wir innerlich darüber hinauswachsen können, ohne etwas Besonderes wollen zu müssen: einfach indem wir begreifen, dass wir keine Jugendlichen mehr sind.

Der formale Aufbau des Buches folgt dem aktuellen Erkenntnisstand zum Lebens-Integrations-Prozess angesichts der sieben Stufen seines Bewusstseinsmodells und ihrer vielfältigen Implikationen. Die Zeit im Mutterleib und während der Geburt kommt zu Wort und mit ihr das dort herrschende Symbiotische Einheitsbewusstsein. Ein ausführlicher Seitenblick zu den kollektiven Erscheinungen jeder individuellen Bewusstseinsstufe macht deutlicher, worum es hier geht. Danach kommt die Kindheit zu Wort und mit ihr das dort herrschende Gruppenbewusstsein. Im Gruppenbewusstsein lebt das emotionale Gewissen, wie Hellinger es beschrieben hatte, aus ihm entstehen die „Ordnungen der Liebe“, wie sie im Familienstellen gesehen werden. Sie gelten für die Zeit der emotionalen Symbiose in der Kindheit und in dem unserer Kindheit psychologisch völlig entsprechenden Gruppenbewusstsein. Das „klassische“ Familienstellen hat hier seinen Lebensort.

Weiter geht es mit einer überaus differenzierten Wanderung durch die Jugend als Übergangszustand zwischen der Abhängigkeit des Kindes und der Freiheit des Erwachsenen. Sie liefert das innere Regelwerk des aktuell herrschenden Bewusstseins, unter anderem mit dem nahezu abergläubischen Vertrauen in das Denken und die Wissenschaft und gleichzeitig dem ebenso abergläubischen Zweifel an den physischen und psychischen Gegebenheiten unseres Daseins. Die Jugend muss aus dem Haus der Kindheit ausziehen, heraus also aus der „Unmündigkeit“. Sie schafft es jedoch notwendigerweise nur in ein inneres Gegenbild jener Zeit, gemacht aus Idealen und Vorstellungen. Die Jugend kann sich noch nicht auf die augenblickliche Wirklichkeit des Lebens einlassen. 

Hierhin kommt man nur durch den Zusammenbruch des Ideals, im Grunde der gesamten bisherigen „Person“, und durch den mutigen Sprung in die eigene Gegenwart, so wie sie eben gerade ist. Dann spürt man, dass man frei ist – und allein. Dann entdeckt man, wie es sich im erwachsenen Selbstbewusstsein lebt. Es öffnet sich eine andere Welt, die des Wahrnehmens, ohne sich mit dem Wahrgenommen zu identifizieren. Hier schaut Wilfried Nelles besonders auf die praktische Arbeit mit dem LIP als Aufstellungsformat und als Initiation in das eigene ungewisse und bodenlose Selbst. Hier zeigt sich auch, wie die therapeutische und beraterische Begleitung von Menschen jenseits des Funktionierenmüssens, des Optimierens und der persönlichen oder kollektiven Erfolgsfantasien möglich wird. Dabei erscheint ein Paradigma des „Sich selbst sein lassens“, welches in der ernsthaften spirituellen Arbeit schon immer bekannt ist. Für die Aufstellungsarbeit und Therapie stellt es jedoch in seiner Integrationsfähigkeit, Kraft und Präzision etwas Neues dar. „Der LIP ist das, womit es in der Aufstellungsarbeit weitergeht.“, sagte mir einmal ein Seminarteilnehmer.

In der fünften Bewusstseinsstufe, der Reife entsprechend, übernimmt unser Inbild, Lebenszweck oder auch die unendliche Kreativität unseres Selbst das Steuer. Wir werden ganz zu dem, der wir sind. Notwendigkeit und Freiheit treffen sich so, dass man sie äußerlich nicht mehr unterscheiden kann oder auch muss. Man tut, was man ist, und umgekehrt. 

Über die sechste Bewusstseinsstufe, dem Alter entsprechend, und die siebte, dem Tod oder Allbewusstsein entsprechend, ist wenig zu sagen, denn man erkennt ein Bewusstsein immer erst dann, wenn man es schon verlassen hat. Wilfried Nelles hält sich daran, zeigt aber das äußerlich Signifikante, und was in Aufstellungen sich über diese letzten Weisen, in der Welt zu sein, erschließt.

Neben dem fundierten und fast beiläufig immer wieder als roter Faden auftauchenden Erkenntnisstrom aus der praktischen Aufstellungs- und Beratungsarbeit kann man in diesem Buch viele weitere Themen entdecken. Sie wirken auf mich wie einzelne ineinander verwobene Bücher und zeigen sich beim Lesen je zu ihrer Zeit.

Eines etwa handelt von all den heiligen Kühen, mit deren Hilfe das moderne Bewusstsein sich selbst vor seiner Wirklichkeit und den vielen natürlichen Gegebenheiten des Lebens schützt. Wer am liebsten politisch korrekte Literatur konsumiert, wird sich möglicherweise immerfort ärgern, da ganz beiläufig eine heilige Kuh nach der andern fällt. Nicht aus Selbstzweck, sondern weil sie sich angesichts unserer inneren und äußeren Realitäten als bloße Illusionen erweisen, sei es das allgegenwärtige Verlangen, die Erde zu retten, oder das eigene Geschlecht nach dem inneren Bilde umzuwandeln, oder das Leben selber in seiner physischen und psychischen Gestalt zu designen, oder es gar technisch herzustellen, seinen Anfang, seinen Verlauf und sein Ende zu bestimmen: sie alle zerplatzen, wenn man das moderne Bewusstseins innerlich verlässt, indem man seelisch erwachsen wird. Sie werden überhaupt erst als Illusionen sichtbar, wenn man sie nicht mehr braucht, sie sich also integrieren können.

Ein weiteres handelt von der Psychologie als der Kunst, das Wirken der Seele in unserem Leben zu erkennen, oder anders gesagt, das menschliche Leben und unsere Wahrnehmung davon aus seinen eigenen Bedingungen heraus zu verstehen, so wie diese Bedingungen in den unterschiedlichen Lebensphasen gegeben sind. Dies bedeutet einen Sprung heraus aus den Beschreibungen all unserer „Fehlleistungen“ hin zu der Würdigung all unserer Überlebens- und Anpassungsleistungen. Der „menschliche Makel“ wird zu einer Ressource, wenn er ganz gesehen und ohne Vorbehalte als Überlebensleistung gewürdigt wird.

Zudem finde ich entlang der vielfältigen Fallbeschreibungen aus Wilfried Nelles’ Praxis ein Buch über wahrhaftige, liebevolle und wie von selbst wirksame Therapie. Sie erwächst  aus der phänomenologischen Haltung in der Aufstellungsarbeit: Man öffnet sich dem, was die Klientin oder der Klient bringt, begleitet ihn oder sie während des nächsten Schrittes und lässt dann „die Seele ihre Arbeit tun.“ Dies geht um so leichter und damit auch kraftvoller, je unbedingter man sich auf den gegenwärtigen Moment und seine Erscheinungen einlassen kann, je klarer man in sich selbst die vergangenen Bewusstseinsstufen und ihre jeweils anspringenden eigenen Überlebensmuster wahrnehmen kann und je vorbehaltloser man sich dem, was im Gegenüber lebt und sich zeigen will, öffnet. Therapie in dieser Weise findet jenseits aller jugendlichen Optimierungs- und Anpassungsbemühungen statt, sie ist in sich selbst eigentlich posttherapeutisch. Sie unterstützt Menschen dabei, zu sich zu kommen.

Außerdem ist es ein Buch über die Kunst der Aufstellungsarbeit geworden, praktiziert als der Umgang mit lebendigen Spiegeln. Sie zeigen allen Beteiligten genau das von sich selbst, das gerade erscheinen will. In dieser Weise verstanden, wird Aufstellungsarbeit zu einer nie versiegenden Quelle der Lebenserkenntnis, der Kraft und der Leichtigkeit. Wenn man sich ihr so aussetzt, wie Wilfried Nelles es seit vielen Jahren tut, wird sie nicht nur zu einem präzisen psychologischen Arbeitsinstrument, sondern auch zu einer machtvollen Möglichkeit, die inneren Bilder, welche unser Spüren, Fühlen, Denken, Wahrnehmen und Handeln immerfort bestimmen, selbst zu sehen, in unserer Körperlichkeit sein zu lassen und auf diese Weise zu integrieren. 

In all dem lese ich nicht zuletzt eine Biografie, die Biografie des Wilfried Nelles. Nicht als Tatsachenbericht, sondern als Anschauung darüber, wie Biografie überhaupt entsteht, wie es also unser Bewusstsein schafft, uns selbst eine ganz bestimmte Geschichte über unser Leben zu erzählen und sie uns als Identität zu geben, und wie es damit immer wieder an seine Grenzen kommt, scheitert und somit wachsen kann. Wilfried Nelles’ Biografie zeigt, dass wir nicht unsere Geschichte sind, sondern diejenigen, die ihre Geschichte wahrnehmen. Wir sind im Grunde immer nur der momentan gelungene Ausgang. Ein Kind erzählt etwas ganz Anderes von seinem Leben als ein innerlich Erwachsener. Es kann sich selbst auch sechzig Jahre später noch die Biografie aus der Perspektive der Kindheit erzählen, ein Ungeborenes oder eine Jugendliche dementsprechend. Im Spiegel der Aufstellungsarbeit erkennen wir, wer wir jeweils waren und was davon noch immer in uns lebt und uns vielleicht retten oder einfach nach Hause holen will. Wir erkennen auch, wer wir sind, ohne genau angeben zu können, was das denn nun sei. Wir erkennen, dass „Leben immer bedeutet, in Ungewisse zu gehen“, auch sich selbst gegenüber. Wilfried Nelles zeigt, wie die gesamte „Biografie“ eines Menschen sich im gegenwärtigen Moment ereignet, konzentriert und gleichzeitig immer neu selber erschafft, je nachdem, was der Moment will. Sie ist letztendlich nichts als eine Erscheinung, die wir mit dem unfassbaren Licht unserer inneren Wahrnehmung beobachten, an ihr leiden oder sie ebenso gut auch feiern können.

Falls Sie beim Lesen dieses Buches noch weitere Bücher darin entdecken sollten, etwa eines über lebenszugewandte Spiritualität im Alltag oder eines über die Begegnung des verinnerlichten „christlichen Abendlandes“ mit der morgenländisch geprägten Perspektive des indischen Weisen Osho oder eines über die Philosophie Nietzsches oder eines über Politik im Wandel der Bewusstseinsstufen: viel Vergnügen. Nicht zuletzt wird jede Leserin und jeder Leser darin ein Buch über sich selbst finden, in das sie hineingezogen werden, und berührt und verändert wieder daraus hervorgehen können. Ein Lebenswerk, das lebt.

 

Berlin, Juli 2020

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