Ein Essay von Thomas Geßner
Ich komme mir manchmal vor wie jener blaue Fisch in der Südsee, von dem Sie sicher schon gehört haben. Sein Nachbar fragte ihn morgens, wie er denn heute das Wasser finde. Der blaue Fisch antwortete erschrocken: „Welches Wasser?“ Er trifft damit die Voraussetzungen für meinen Versuch über den Zeitgeist und seine Rolle im Zusammenspiel von Kollektivem und Individuellem. Wir werden das Wasser für kurze Momente verlassen müssen, um ein klein wenig vom uns umgebenden Zeitgeist wahrnehmen zu können.
Erinnern Sie sich, wann Sie zum letzten Mal auf Ihr Handy geschaut haben? Vor zehn Sekunden, vor zwei Minuten oder gestern? Ich vor zwei Minuten. Ich wollte wissen, wie kalt es draußen ist. Sieben Grad Minus. Und ich musste nachschauen, ob ich am nächsten Wochenende tatsächlich frei habe. Kalender, Mails, Nachrichten, WhatsApp, Blutdruck-App, 1.000 Stunden Musik, 27 Fotoalben inklusive der letzten erinnerungspflichtigen Mahlzeiten, ein Fotoapparat, eine Videokamera, ein Diktiergerät, YouTube, Hunderte von Adressen, amerikanische Militärtechnik (GPS) und ihre Anwendungen in Landkarten und Stadtplänen, Ortungsdiensten und Bewegungsprofilen, das Internet mit seinen Cookies (die mir noch immer Gemüseschäler auf den Minibildschirm zaubern, nachdem ich vor zwei Wochen einmal solche gesucht hatte), eine Fitness-App (unbenutzt), mein Bahnfahrplan inklusive Tickets und Verspätungsmeldungen, ein Stimmgerät, eine Lupe, eine Taschenlampe, einen Wecker – und ein Telefon: tatsächlich. Was ich meinem Handy noch immer übel nehme, ist, dass man sich nicht damit rasieren kann. Ein integrierter Föhn wäre ebenfalls praktisch.
Das Handy: Symbol der Freiheit und Suchtmittel zugleich, gestaltgewordene Unabhängigkeitserklärung und der feuchte Traum aller Geheimdienste in einem. Mein Tor zur Welt und genau darin der Schlussstein jener unsichtbaren Wand, die mich rettungslos von der Welt separiert. Das Handy bereitet mir in der Verbundenheit mit allem und jedem die höchsten Wonnen der Symbiose. Gleichzeitig lässt es mich mutterseelenallein zurück, denn die Verbundenheit ist virtuell, sie besteht nur in meiner Vorstellung, im technisch-abstrakten Raum des Digitalen. In Wirklichkeit sitze ich allein mit mir und starre auf einen viel zu kleinen Bildschirm. Ich könnte sogar mit ihm reden. Das Handy antwortet mit sanfter Stimme, aber da lebt niemand. Oder vielleicht doch?
Geist und Zeit
Eine präzisere Illustration zum Zeitgeist als das Handy und seinen unfassbaren Platz in unserem Alltag finde ich nirgends. Daher könnte ich jetzt schon mit meiner kleinen Untersuchung aufhören. Die Schwierigkeit besteht jedoch darin, dass ich mit dem bloßen Gebrauch des Handys nichts über den Zeitgeist aussage, sondern ihn einfach vollziehe. „Der Zeitgeist bin ich“, sozusagen, in Abwandlung einer Ludwig XIV. zugeschriebenen Staatsdefinition. Ich kann nichts anderes sein als der Zeitgeist, ich kann nichts über ihn schreiben, ohne dass er selbst mir die Finger führt. Denn ich und Sie und wir alle hier sind seine Geschöpfe, während wir ihn immerfort mit unserem Alltagsleben herstellen und ausgestalten. Ich müsste einen Ort außerhalb der Zeit finden, um etwas über die aktuelle Zeit und über ihren Geist, über das, was sie belebt und beseelt, aussagen zu können. Es gibt diesen „Ort“, er ist immer da, aber dazu später. Vorher schaue ich genauer auf jene beiden Begriffe, aus denen sich der „Zeitgeist“ zusammensetzt, auf „Zeit“ und auf „Geist“.
Zu „Geist“ fällt mir ein hebräisches Wort ein: „Ruach“, der „Geist Gottes“. „Ruach“ schwebte zu Beginn der Genesis „über den Wassern“, als die Erde noch „wüst und leer“ war. Gott pustete dem Menschen, welchen er später aus Lehm geformt hatte, seinen „Ruach“ in die Nase, und „so wurde der Mensch ein lebendiges Wesen“. Als dann in der Antike die griechische Sprache nötig wurde, um den Hintergrund des hebräisch-aramäischen Jesus in Europa einordnen zu können, verstand man den „Ruach“ Gottes mit Hilfe des griechischen Wortes „Pneuma“. Es bezeichnet wie sein hebräisches Pendant eine Mischung aus Eigenschaft und Tätigkeit: „lebendig“ und „atmen“. Die deutsche Übersetzung von „Pneuma“ heißt „Geist“, im Sinne von: „atmende Lebendigkeit“. Die Frage nach dem aktuellen „Zeitgeist“ verändert sich nun: „Wo, wie und auf welche Weise hat diese Zeit ihre atmende Lebendigkeit?“
Um davon etwas sehen zu können, schauen wir auf den anderen Teil von „Zeitgeist“: Was ist „Zeit“? Im physikalischen Sinne scheint „Zeit“ ein Ausdruck des Energieerhaltungssatzes zu sein, und zwar in seiner Grundfunktion der Entropie (ruhig weiterlesen, es ist nicht das, wonach es aussieht): Energie entspannt sich immer von einem höheren, konzentrierteren Niveau in ein niedrigeres, weniger konzentriertes Niveau. Ein Beispiel: Eben gerade stellt mir der Kellner frischen Kaffee hin, heiß und dampfend. Diesem Kaffee würde es niemals einfallen, noch heißer zu werden, indem er seiner Umgebung, etwa der Caféhausluft, Energie entzieht. Er tut das Gegenteil: Er passt sich der Umgebung an, gibt Wärme-Energie ab und erreicht langsam die Lufttemperatur hier im Raum. Um das zu schaffen, braucht er unfassbar viele winzige Momente hintereinander. In jedem dieser Momente gibt mein Kaffee ein kleines Quäntchen Energie ab, während die umgebende Luft (oder mein Magen) dieses Quäntchen übernimmt. Meinem Magen wird dabei wärmer, der Luft im Café ebenfalls. Genau diese Abfolge von Momenten des Energieausgleichs nennen wir „Zeit“.
Die physikalische Zeit entspringt seit dem Urknall dem Phänomen des Energieausgleichs, und sie geht immer in Richtung Entspannung. Eine weitere Funktion des Energieflusses von der Konzentration zur Entspannung heißt „Raum“. Sie ergibt den Platz für die Bewegung des Energieausgleichs. Auch der Raum „fließt“ in Richtung Energie/Entspannung: Das Universum dehnt sich mit wachsender Geschwindigkeit offenbar immer weiter aus. Zeit und Raum sind die Bedingungen, innerhalb derer überhaupt etwas da sein kann, wir Menschen zum Beispiel und unsere Welt. „Zeitgeist“ wäre damit auf unsere „atmende Lebendigkeit“ in dem aktuellen Raum/Zeit-Fenster des knapp vierzehn Milliarden Jahre alten Universums eingegrenzt.
Nun sind „atmende Lebendigkeit“ und „physikalische Zeit“ zwei „Dinge“, die verschiedenen Welten angehören. Physikalische Zeit ist (wie der physikalische Raum) Grundbaustein der Welt der Formen, also dessen, was da ist. Atmende Lebendigkeit ist formlos, sie ist nicht da, sondern entfaltet sich in dem, was da ist, in uns Menschen etwa. Die Momente, in denen ich wahrnehme, wie der Kaffee meine Zunge trifft und seine Wärme meinem Magen schmeichelt, finden außerhalb der Zeit statt. Sie sind mein „Leben“, nicht meine „Zeit“. „Zeit“ (und „Raum“) sind physikalische Vorgänge. Die Lebendigkeit ist das, was diese Vorgänge wahrnimmt und in ihnen oder mittels ihnen stattfindet. Anders gesagt: „Lebendigkeit“ ist meine Essenz, „Zeit und Raum“ bilden meine aktuelle Form: ein mittelalter, männlicher Mitteleuropäer.
Wenn man unmittelbar lebt, ist man im „Jetzt“, das ist außerhalb der Zeit. „Zeit“ und „Raum“ sind tatsächlich etwas anderes als unsere „atmende Lebendigkeit“ selber. Sie können diesen Unterschied wahrnehmen, wenn Sie sich von etwas vollkommen in Anspruch nehmen lassen, ohne dabei bewusst nachzudenken, wenn also Ihre atmende Lebendigkeit sich in etwas gerade Aktuellem verlieren, verströmen und wiederfinden kann. Dann spüren Sie keine Zeit, sie ist einfach weg, im Nu verflogen. Sei es im Zusammensein mit einem geliebten Menschen, sei es mit einem guten Buch, sei es bei einer spannenden Tätigkeit, sei es mit Gedanken, Ideen, Gefühlen, Körperwahrnehmungen usw. Die moderne Wissenschaft nennt dieses Phänomen „Flow“, die meisten spirituellen Schulen nennen es „Leben“.
Abhängigkeit und Kontrolle
Wo haben nun die kollektiven Erscheinungen unserer Gegenwart ihre Essenz, ihre Lebendigkeit, ihr Beseeltsein, und wie wirken sie in unser individuelles Leben hinein? Anders gefragt: Was macht der Zeitgeist mit uns? Nach meinem Eindruck hat unser Zeitgeist seine Lebendigkeit, sein Beseeltes, im Reich des Virtuellen. Er lebt in gedanklichen Bildern, in kollektiven Vorstellungen über uns selbst, über die anderen und die Welt. Der Geist unserer Zeit gibt uns ein klares Ziel vor: die möglichst umfassende Kontrolle über uns selbst, über die anderen und die Welt. Seine Vorstellungen (und damit die Vorstellungen der meisten heute lebenden Menschen) über das Dasein leiten sich aus diesem Ziel der umfassenden Kontrolle ab. Außerdem hat unser Zeitgeist die Eigenart, sich selbst sowohl über sein Ziel als auch über die ihn leitenden Vorstellungen im Unklaren zu lassen. Der Zeitgeist macht sich andauernd etwas vor. Er weiß nicht, dass er ein Kontrollfreak ist und dass er seine Vorstellungen über die Realität dazu benutzt, sich vor der echten Lebensrealität zu schützen, ja sich hermetisch von ihr abzuriegeln. Der Zeitgeist lebt mit sich selbst in Symbiose. Er kann sich nicht von seinem Ziel der Kontrolle und seinen daher rührenden Vorstellungen über das Leben unterscheiden. Er ist sich vollkommen unbewusst und daher gänzlich unbekannt. Der Zeitgeist ist sich selbst ein Fremder.
Ich beklage dies nicht, ich schaue nur hin und beschreibe, was ich sehe. Die Klage über die Verhältnisse ist eine Geste der gefühlten Ohnmacht, sie selbst gehört zum Standardrepertoire des aktuellen Zeitgeistes. Wie kommt der Zeitgeist auf sein Ziel der umfassenden Kontrolle? Wie komme ich überhaupt darauf, dass dies sein Ziel sei? Und welche Gestalt findet dieses Ziel in den kollektiven Vorstellungen unserer Zeit? „Kontrolle“ bezeichnet ja unser natürliches Verhalten zur Abwendung von Ohnmacht und damit von Lebensgefahr, solange wir uns abhängig von einer Umgebung fühlen. Sie ist das wichtigste Instrument der abhängigen, unbewussten Liebe, also unseres Überlebenstriebes.
Ich kann hier nur kurz umreißen, was dabei aus meiner Sicht vor sich geht: Während der Kindheit leben wir in emotionaler Abhängigkeit von unserer primären Gruppe, der Familie. Das Wichtigste für Kinder ist die subjektiv gefühlte, uneingeschränkte Zugehörigkeit, denn sie bedeutet Sicherheit vor der Lebensgefahr des Verlorengehens. Unser emotionales Gewissen informiert uns zu jeder Zeit darüber, ob wir noch dazugehören, also in Sicherheit sind. Dann fühlen wir uns unschuldig und haben ein „gutes Gewissen“. Falls unsere Zugehörigkeit gefährdet ist, wir also unbewusst eine Lebensgefahr wahrnehmen, fühlen wir uns schuldig, samt „schlechtem Gewissen“. Bert Hellinger hat diese Dynamiken entdeckt und beschrieben (Hellinger, 2001).
Mit Hilfe unseres Gewissens bleiben wir als Kinder, von innen heraus gesteuert, immer im sicheren Bereich der Umgebung, von der wir abhängig sind. Wir sagen unbewusst zu ihr: „Für dich tue ich alles, egal, was es mich kostet, denn wenn es dir gut geht, bleibe ich am Leben.“ Die emotionale Abhängigkeit führt dazu, dass wir uns gefühlsmäßig mit unserer Umgebung verwechseln und alles auf uns beziehen, was in der primären Gruppe geschieht. Wir leben in emotionaler Symbiose mit den Eltern und Geschwistern, manchmal auch mit den Großeltern oder noch früheren Generationen. Dies alles ist unvermeidlich, bringt uns während der Kindheit oft zu unglaublichen Anpassungsreaktionen und sorgt dafür, dass wir die kindliche Abhängigkeit schließlich überleben. In der emotionalen Abhängigkeit entsteht eine genau für diese passende Art und Weise der Selbst- und Weltwahrnehmung. Wilfried Nelles (2009) beschreibt sie als „Wir- oder Gruppenbewusstsein“. Die inneren Echos aus dieser Zeit der emotionalen Abhängigkeit und der damit verbundenen, zum Teil traumatischen Überlebensmuster bevölkern das Feld von Seelsorge, Therapie und Beratung und natürlich das der Aufstellungsarbeit.
Wir können jedoch keine Kinder bleiben, wir müssen das Nest verlassen. Diese Bewegung in das eigene Leben ist noch immer recht wenig im Blick, denn ihre Echos bilden den Kern des aktuellen Zeitgeistes. Der jugendliche Entwicklungsraum, welcher sich nach der Kindheit auftut, ergibt sozusagen das Wasser, in dem die blauen Fische schwimmen. Im individuellen Leben hört die Kindheit auf, wenn die Sexualhormone unsere Körper überfluten. Die Pubertät beginnt. Während der Entwicklungsraum für Kinder relativ eindeutig durch die emotionale Zugehörigkeit zur Familie definiert war, sieht die Jugend sich zwei gegensätzlichen Aufgaben gegenüber: Sie muss zum einen, um ihrem Fortpflanzungsimpuls folgen zu können, die Familie verlassen. Damit bringt sie das Kind, welches sie einmal war, in Lebensgefahr. Sie nimmt es aus der Familie heraus und entzieht ihm seine lebensnotwendige Zugehörigkeit. Die Jugend wird daher zum anderen um jeden Preis verhindern, dass dieses Innere Kind sich je wieder so ohnmächtig und ausgeliefert fühlt wie damals.
Die Jugend und das in ihrer Entwicklungsaufgabe entstehende Ich-Bewusstsein müssen es daher schaffen, ein eigenes Leben außerhalb der Herkunftsfamilie zu finden und gleichzeitig dem Kind, das sie einmal waren, die innere Zugehörigkeit zu eben dieser Herkunftsfamilie zu erhalten. Die Jugend versucht zu wachsen, ohne schuldig zu werden. Sie muss sich ein autonomes Ich, ein individuelles Leben aufbauen, ohne die Regeln der Kindheit, der Zugehörigkeit und des emotionalen Gewissens zu verletzen, ohne also in innere Lebensgefahr zu geraten. Das ist notwendig und gleichzeitig unmöglich. Es geht nur, wenn man sich etwas über das Leben vormacht. Dazu verhelfen wir uns mit einem Trick: Wir nehmen das komplette emotionale Koordinatensystem der Kindheit als heimliches Gepäck mit, wenn wir das Haus der Kindheit verlassen. Wir verwandeln die emotionale Umgebung, von der wir als Kinder abhängig waren, in eine unbewusste innere Umgebung, auf die wir nun derart regieren, dass die körperlich-psychische Erinnerung zu wesentlichen Kindheitsereignissen, also zu unserem Inneren Kind, weiter ungefährdet dazugehören kann.
Der Trick vollzieht sich unterhalb des „Radars“ unserer bewussten Wahrnehmung. Er sichert unser Überleben, solange wir innerlich Jugendliche sind. Direkt im „Radar“ der bewussten Wahrnehmung geschieht genau das Gegenteil: Wir versuchen, uns mittels rationaler Unterscheidungen über die emotionalen Dilemmata der kindlichen Vergangenheit klarzuwerden (andere emotionale Dilemmata als die kindlichen gibt es nicht) und alles genau entgegengesetzt wie damals zu machen, um ihnen in Zukunft zu entgehen. Dazu müssen wir die kindliche Ohnmacht in Macht verwandeln, also in echte Wirksamkeit, zum einen uns selbst gegenüber, zum anderen den anderen und der Welt gegenüber. Die Werkzeuge dazu liefert uns das Denken. Mit seiner Hilfe lassen sich rationale Modelle herstellen, die in der Lage sind, das emotionale Wirrwarr der Pubertät zu reflektieren und zu durchschauen.
Das Mittel, um Ohnmacht in Macht zu verwandeln, heißt Kontrolle. Wir kontrollieren uns selbst, die anderen und die Welt mit Hilfe des Denkens, mit Hilfe unseres Verstandes. Notwendigerweise fallen wir dabei auf unsere rationalen Modelle des Lebens herein und halten sie für die Realität. Wir identifizieren uns mit ihnen, sodass sie ein kollektives Phänomen werden, so etwas wie ein kollektiver Glaube. Der Zeitgeist hält überhaupt die Realität des Lebens für konstruierbar und damit für veränderbar, aber das ist offenbar ein unvermeidlicher und nicht zu überspringender Entwicklungsraum der kollektiven Jugend. In unserem Zeitgeist sehe ich die jugendlich-abhängige Liebe bei der Arbeit.
Unter „abhängige Liebe“ verstehe ich alle körperlichen, emotionalen und gedanklichen Anpassungsbewegungen, die wir vom Moment der Zeugung an vollziehen, um in einer Umgebung zu überleben, von der wir uns als abhängig wahrnehmen. Die abhängige Liebe hat drei Stufen: körperlich (der Mutterleib, Ungeborenes), emotional (die Familie, das Kind) und gedanklich (das eigene Weltbild, die Jugend). Das Ungeborene vollzieht die Anpassungsbewegungen, indem es seine Gestalt bildet. Während der Kindheit werden sie als Emotionen fühlbar, unter anderem auch als Liebe. In der Jugend dominieren sie unser Denken. Das Gewissen als „lebensrettender Zugehörigkeitsanzeiger“ arbeitet auf jeder Stufe der abhängigen Liebe: im körperlichen Vollzug (Mutterleib), in der emotionalen Landschaft (Kindheit) sowie in der gedanklichen Treue zu rationalen Vorstellungen (Jugend). Analog zur Jugend macht sich der aktuelle Zeitgeist unbewusst abhängig von seinen Vorstellungen über das Leben und verhält sich diesen Vorstellungen gegenüber wie Kinder gegenüber ihren Eltern: Treue zu ihnen entspricht der sicheren Zugehörigkeit, sichere Zugehörigkeit wiederum entspricht der Abwendung von Lebensgefahr.
Ich möchte im Folgenden anschauen, wie die jugendlich-abhängige Liebe im kollektiven Kontext aus meiner Sicht wirkt, anders gesagt, wo und wie sich die „atmende Lebendigkeit“ unserer Gegenwart zeigt. Dazu nähere ich mich drei prominenten Vorstellungen des Zeitgeistes. Es sind kollektiv wirksame innere Modelle der Realität: „Freiheit“, „Funktionieren“ und „Lösung“.
Freiheit
Byung-Chul Han, ein koreanischer Philosphieprofessor in Berlin, hält das Projekt der „Freiheit“ in der modernen Leistungsgesellschaft für gescheitert. Es beginne als ein Gefühl des: „Yes we can“, unterliege aber regelmäßig der Macht des Kapitals. Bevor ich weiterschreibe, weise ich darauf hin, dass ich hier die Sprache der psychologischen Betrachtung verwende, nicht die Sprache von Politik, Moral oder Rechtswesen.
Freiheit im psychologischen oder seelischen Sinne ist nicht möglich, solange man „entkommen will“, sei es einer früheren Abhängigkeit, einer zu eng gewordenen Tradition, einer Bedrohung oder was auch immer. Freiheit im psychologischen oder seelischen Sinn hat keine Bedingungen, weder äußere noch innere. Der Satz etwa: „Wenn ich das und das geschafft oder hinter mir gelassen habe, dann bin ich frei“, knüpft Freiheit an eine Bedingung: „Wenn ich genügend Geld habe, wenn ich endlich zuhause ausgezogen bin, wenn die Mauern fallen, wenn die Unterdrückten dieser Erde sich endlich (nach meinem Programm) zusammenschließen, wenn der Klimawandel oder die Kriminalität oder der Krieg (oder neuerdings die Corona-Pandemie) endlich global bekämpft würden, dann wäre ich frei.“ Obwohl all diese Ziele eine Kombination aus größerem Bewegungsspielraum und erhöhtem Sicherheitsgefühl anstreben, haben sie nichts mit Freiheit zu tun, sondern mit Autonomie.
Autonomie, das Leben nach „eigenem Gesetz“, schaut immer in die Vergangenheit, um sich von ihr zu befreien. Sie bleibt dadurch bis in die Gegenwart mit dem ohnmächtigen „Damals“ verbunden, und zwar genau dadurch, dass sie es zu überwinden und „loszulassen“ versucht. Autonomie bleibt rückwärts gewandt, sie braucht das Vergangene als Orientierung und damit heimlich als Sicherheit. Die kollektive Idee der Autonomie wird im öffentlichen Diskurs tatsächlich irreführend „Freiheit“ genannt, „frei sein von …“, „bürgerliche Freiheit“, „demokratische Freiheit“. Sie besteht auf mehr Spielraum bei gleicher Sicherheit wie im unfreien „Damals“oder bei sogar erhöhter Sicherheit und feiert sich, wenn sie dieses Gefühl erreicht oder verteidigt hat. Autonomie redet sich selber ein, echte Freiheit zu sein, um nicht wahrnehmen zu müssen, dass sie nur eine ins Gegenteil gewendete Abhängigkeit von „Damals“ ist. Ihr Lieblingsspielzeug scheint im Moment das zu Anfang besungene Handy zu sein, am besten in seiner outdoortauglichen „Jack-Wolfskin-Version“, mit der man den prachtvollen Sonnenuntergang im Himalaya oder das tolle Essen beim Chinesen nebenan fotografieren und socialmediamäßig symbiotisch vervielfachen kann. Das Internet scheint mir die gedankliche Symbiose mit unseren rationalen Modellen technisch umzusetzen. Es ist damit eine präzise, wenn auch virtuelle Verdinglichung unseres Unbewussten. Es ist kollektiv zugänglich, bleibt aber unerkannt. Es wird damit in seinem Kontrollimpuls massenwirksam und gleichzeitig unkontrollierbar. Zur Wahrnehmung unserer technischen Umgebung als der aktuellen Gestalt unseres kollektiven Unbewussten verdanke ich Wolfgang Giegerich die entscheidenden Anstöße.
Freiheit hat keine Bedingung und keine Sicherheit. Freiheit bewegt sich in der technisch-digitalen Umgebung, ohne sich mit ihr zu verwechseln. Sie kommt von jenem „Ort“ außerhalb der Zeit, von dem aus der blaue Fisch das Wasser als solches wahrnehmen könnte: aus der unmittelbaren Lebendigkeit, aus dem gegenwärtigen Augenblick. Mein gegenwärtiger Augenblick gehört nicht zur „Zeit“, wie wir gesehen haben, sondern er ist einfach mein Leben, wie es gerade stattfindet. Freiheit kann sich in diesem Augenblick ereignen, völlig unabhängig von äußeren oder inneren Umständen. Sie emanzipiert sich von nichts, sie bekämpft nichts, sie muss nichts loslassen oder lösen. Sie lebt einfach. Sie kommt aus dem Wachstumstrieb, welcher nach Entfaltung drängt. In meinen Anschauungen über die unbewusste Liebe nenne ich dieses Phänomen „Selbstliebe“. Sie verbindet uns mit der inneren Lebendigkeit, mit unserer Essenz.
Freiheit in diesem Sinne spielt im öffentlichen Diskurs kaum eine Rolle. Anders als Autonomie würde Freiheit den Zeitgeist unterlaufen, weil sie seine Modelle als solche erkennt und sich lieber auf Realien als auf Phantasien verlässt. Sie vertraut dem natürlichen Fluss des Lebens mehr als der (aussichtslosen) Kontrolle desselben. Freiheit fühlt sich immer sicher, daher muss sie auf keine Umgebung in abhängiger Weise reagieren. Freiheit kann agieren, einfach aus dem Moment heraus. Sie ist dem Denken, dem rationalen inneren Modellbau, nicht zugänglich und auch nicht verständlich, sondern führt darüber hinaus. Ein Ausdruck dieser Freiheit ist die phänomenologische Vorgehensweise beim Aufstellen. Sie überlässt sich ohne weitere Absichten oder Konzepte dem, was im gegenwärtigen Moment erscheint. Sie kann sich nach und nach auch in der persönlichen Lebensweise ausbreiten. Man wird dann aber ein Fremder unter den Fischen.
Funktionieren
Eine besondere Form von Kontrolle ist die Idee, das man selbst, dass andere Leute oder auch technische Dinge wie Waschmaschinen funktionieren müssten, sich also entsprechend einer vorher ausgesprochenen Zuschreibung zu verhalten hätten. Damit ich „funktionieren“ kann, muss die definierende Zuschreibung mächtiger sein als ich. Sie muss sich auf jemanden beziehen, von dem ich subjektiv auf Leben und Tod abhängig bin. „Funktionieren“ bedeutet, ich passe mein Handeln, Fühlen und Denken so an, dass ich in dieser Abhängigkeit überleben kann. Es übt Kontrolle in zwei Richtungen aus: Ich kontrolliere mich selbst so, dass ich etwa als Kind weiter zur Familie gehören kann oder als Jugendlicher meinen inneren Lebensmodellen weiterhin treu bleibe, etwa meinen Idealen. Und ich kontrolliere meine Umgebung so, dass sie mich behält, mir die Zugehörigkeit und damit das Überleben erlaubt. Als Kind wäre meine „Umgebung“ die Familie. Als Jugendlicher entsteht meine „Umgebung“ durch die Übertragung meiner unbewusst und emotional verinnerlichten Familie auf alles, was ich sehe, also auf mich als „Umgebung“ (etwa meine Körperlichkeit), auf die anderen (etwa meinen Liebespartner) und auf die Welt (etwa die Umwelt).
Das führt dazu, dass der Zeitgeist alles, was funktioniert, als gesund bzw. okay ansieht, während er alles, was nicht „funktioniert“, entweder für schwach, krank oder verrückt hält. Der aktuell vorherrschende Krankheitsbegriff als „Funktionsstörung“ kommt aus dieser Vorstellung, ebenso die Vorstellung von „Trauma“ als Störung, obwohl „Trauma“ eigentlich genau das Gegenteil davon ist, nämlich eine lebensrettende Art und Weise, bedrohliche Störungen zu verarbeiten. Der Zeitgeist will „Störungen“ immer beseitigen, ob in der Medizin, in der Politik oder in der Umwelt.
Die Vorstellung vom Funktionieren enthält in sich den Zwang zum Optimieren, da z. B. das innere Bild eines „funktionierenden“ Ichs fortwährend auf mich als eine reale Person trifft und dann versuchen muss, diese Realität meiner inneren Vorstellung anzupassen. Im kollektiven Kontext geschieht dies ebenfalls, es wird andauernd „intensiviert, optimiert, flexibilisiert, effektiviert, angepasst, erneuert, zukunftsfähig und wettbewerbsfähig gemacht“, es wird „gestaltet, geplant und umgesetzt“. Im psychologischen Sinne sind dies ausnahmslos Kontrollbewegungen, um die Realitäten des Daseins gemäß einem inneren Modell oder Bild „in den Griff zu kriegen“. Zur Kontrolle über das eigene Leben gehört auch die Kontrolle über das Aussehen mittels Sport, Chirurgie und Kosmetik, über die physische und psychische Funktionalität (also Gesundheit und Leistungsfähigkeit), über das Geschlecht, das Alter usw. Außerdem gehört dazu die Vorstellung von Erfolg im Sinne von Wirksamkeit im selbst gewünschten Sinn, die Vorstellung vom freien Willen, von erfüllender Beziehung, erfüllender Arbeit usw. Die Königsdisziplin im Fach Optimierung schließlich heißt „Rettung der Welt“. Sie stellt die Nachwuchsakademie für Diktatoren jeder Art.
Natürlicherweise verliert der Zeitgeist wesentliche Realitäten des Daseins beim Optimieren desselben aus dem Blick. Zu diesen Realitäten oder „unbequemen Wahrheiten“ gehören die tatsächlichen existentiellen Abhängigkeiten des menschlichen Daseins, etwa die nicht umgehbare Abhängigkeit von einem gewissen Grundgleichgewicht in den Resten unserer natürlichen Umgebung wie atembarer Luft, sauberem Wasser, ungiftigem Boden und genügend Insekten zum Bestäuben des Getreides. Weiterhin gehören die Gegebenheiten des Lebens wie Geburt, Tod, Geschlecht und Hautfarbe dazu, welche uns einfach zustoßen, ohne dass wir das Geringste daran ändern könnten: In ihnen „geschieht“ uns das Leben. Es gehört ebenso die einfache Tatsache dazu, dass wir alle Menschen sind, von einer Frau geboren, mit einem Recht zu leben, für lange Jahre auf Zugehörigkeit und Sicherheit angewiesen, wie die Tatsache, dass all dies auch durch noch so absolute (und damit tödliche) Modelle des Zeitgeistes, wie sie sich in den verschiedenen religiösen, kulturellen und politischen Extremismen zeigen, nicht außer Kraft gesetzt wird. Der Zeitgeist sieht diese menschlichen Gemeinsamkeiten nicht, wie uns die aktuellen Nachrichten auf dem Handy minütlich zeigen.
Verständlicherweise ertönt nun der Ruf nach der „Lösung“ und damit nach einer Art endgültiger Optimierung des eigenen Funktionierens. Hier wird die Suche nach der „Lösung“ als die am besten getarnte Kontrollbewegung des Zeitgeistes erkennbar. Natürlich hat sie in seiner Reparaturwerkstatt einen prominenten Platz gefunden, nämlich in Therapie und Beratung.
Lösung
Zunächst sucht man die Lösung in der Zeit, von der man sich lösen will: in der Vergangenheit. Die aktuellen Schwierigkeiten des Zeitgeistes entstehen ja erst, indem er die gegenwärtige Realität mit seinen eigenen (Überlebens)-Modellen verwechselt. Seine Modelle passen ins „Damals“, sie haben uns damals gerettet, aber sie sind heute nicht mehr gültig und vor allem auch nicht mehr notwendig. Ein kluger Mensch hat einmal sinngemäß gesagt, dass man aus der Geschichte nur eines lernen könne, nämlich dass man nichts aus ihr lerne. Das klingt fatalistisch, aber nur aus der Sicht des Zeitgeistes und seiner Optimierungsideen. Von außerhalb des Zeitgeistes ist dies die einfache und vor allem unausweichliche Wahrheit der abhängigen Liebe, eine Wahrheit unserer Zeit. Darüber hinausführendes „Lernen“, also das Verlernen der modellhaften Überlebensmuster unseres Zeitgeistes, geschieht nur in der Verbindung zum gegenwärtigen Moment und seiner relativen Sicherheit, im Unterschied zum bedrohlichen „Damals“.
Ich halte es daher für einen Irrtum, heutiges Unglück mit bestimmten Ereignissen oder Schrecken der Vergangenheit zu erklären, etwa damit, was uns als Kinder geschehen ist, oder damit, was unsere Eltern bzw. Großeltern getan oder erlebt haben. Heutiges Unglück kommt aus der Art und Weise, wie wir noch heute auf das Damalige innerlich reagieren, wenn uns Ähnliches begegnet. Es kommt aus unserem aktuellen Überlebenstrieb, welcher den damaligen Schrecken nicht vorbei sein lässt, um auf Ähnliches vorbereitet zu bleiben. Der suchende Blick in die Vergangenheit, verbunden mit der Hoffnung, in der Analyse der damaligen Ursachen die Lösung für heutige Probleme zu finden, kann im Gegenteil die Symbiose mit dem „Damals“, die unbewusste Identifizierung mit den damals hilfreichen Überlebens- und Anpassungsreaktionen weiter verstärken.
Der unablässige (und unbewusste) Blick in die Vergangenheit gehört zur pubertierenden Jugend. Sie hat keinen anderen, denn sie muss ja von dort wegkommen und sich mit allen Mitteln davor schützen, Ähnliches jemals wieder zu erleben. Die kollektive Entsprechung dazu entspricht dem Programm der Aufklärung und damit der Grundlage der sogenannten westlichen Werte. Sie heißt: „Aufbruch aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“. Natürlich kollidiert dieses im Grunde jugendliche Programm fortwährend mit den unbewussten Zugehörigkeits- und Sicherheitsbedürfnissen des kindlich-emotionalen Gruppenbewusstseins, wie wir etwa an den früheren Flüchtlings- und aktuellen Corona-Debatten bis hin zur Populismus- und Extremismus-Krise in Europa gut sehen können.
Das Dilemma zwischen Zugehörigkeit und Autonomie ist prinzipiell nicht lösbar, solange man es lösen will. Die „Lösung“ besteht darin, es ungelöst zu lassen, die Vergangenheit zu lassen, wo und wie sie war, und sich der Gegenwart zuzuwenden. Die Gegenwart ist der einzige sichere Anker, um jenseits von Problem und Lösung eine Therapie oder Beratung oder in all dem eine Aufstellungsarbeit zu betreiben, die aus dem Zeitgeist, seinen Verwechslungen und Begrenzungen hinausführt und uns wieder mit dem Leben verbindet, wie es durch uns geschieht. Der Zeitgeist selbst ist blind, wie alles, was aus abhängiger Liebe kommt. Er sieht nicht, worum es im Moment geht, er kann nicht wahrnehmen, was das Leben gerade gewährt oder fordert. Das Leben gibt üppige Ressourcen für alle und gleichzeitig die Möglichkeit, sich durch übermäßigen Ressourcenverbrauch das Weiterleben als Art zu verbauen. Das Leben gibt Schönheit und Freude in der Gegenwart für alle. Es gewährt gleichzeitig die Möglichkeit, beides komplett zu übersehen oder auch auszuradieren.
Mir scheint es beim kollektiven Zeitgeist um Ähnliches zu gehen wie bei der individuellen Pubertät: Hauptsache, man überlebt sie. Mit etwas Glück kommt man innerlich im realen Leben an und kann sich daran freuen. Übrigens, ich mag mein Handy. Als Kind habe ich immer von einem kleinen Handfernseher geträumt, mit dem ich heimlich unter der Bettdecke „Lassie“ gucken könnte. „Lassie“ ist heute überall, aber das kann man dem blauen Fisch nicht erzählen.
Erstveröffentlichung im Jahrbuch der PdS „Einflüsse der Welt“ 2018, V&R. Für diesen Blog leicht bearbeitet.
Literatur
Geßner, Thomas (2018). Wie wir lieben. Und was wir alles aus Liebe tun oder vermeiden. Köln: Innenweltverlag.
Giegerich, Wolfgang. (1988). Die Psychoanalyse der Atombombe. Versuch über den Geist des christlichen Abendlandes. Bd. 1 u. 2. Zürich: Schweizer Spiegel Verlag.
Gresser, I. (2016). Müdigkeitsgesellschaft. Byung-Chul Han in Seoul/Berlin. DVD. Berlin: Matthes & Seitz Verlag.
Hellinger, Bert (2001). Gewissen und Seele. Praxis der Systemaufstellung, 2, 9-15.
Nelles, Wilfried (2009). Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Die Evolution des Bewusstseins, spirituelles Wachstum und das Familienstellen (2. Aufl.). Köln: Innenweltverlag.
Nelles, Wilfried (2018). Das Leben geschieht. Wie Therapie und Spiritualität sich begegnen können. Eröffnungsband der Edition Neue Psychologie. Köln: Innenweltverlag.