Symbiose: Womit wir unbewusst zusammenleben.
Leicht bearbeiteter Vortrag von Thomas Geßner am 28.05.2022 in Nettersheim, Frühjahrsakademie Nelles Institut
Mein Kopf ist leer, so wie Malte Nelles es gestern über das Innere gesagt hatte. Ich erinnere mich gerade noch an die Überschrift meines Vortrags: „Jetzt und Damals – Symbiose und Freiheit – Leben und Überleben“. Die totale Leere im Kopf vor Publikum kenne ich von mir. Kurz nach der Friedlichen Revolution und dem Mauerfall leitete ich als Student gemeinsam mit einem Kommilitonen ein Universitätskonzil im Auditorium Maximum Leipzig. So etwas war damals möglich. Ich hatte es gewagt, dem Rektor ins Wort zu fallen, der meinte, noch im Stil der gerade untergegangenen DDR den Anwesenden sagen zu können, was alles zu tun sei. Er stritt sich ausdauernd mit jemandem, ich nahm das Mikrofon und sagte: „Keine Dialoge bitte!“ Vor mehreren tausend Menschen.
Der Rektor beschwerte sich über meine Unhöflichkeit, ich zuckte mit den Schultern und fuhr fort in der Tagesordnung. Fünf Minuten später kam der Nebel. Ich hörte und sah kaum noch etwas, wusste nicht mehr, wer ich bin, wie ich heiße und was ich da tat. Ich merkte nur, dass ich gerade nicht weiterkonnte, gab meinem Kollegen das Mikrofon und bat ihn, die Leitung zu übernehmen. Nach einigen Minuten verzog sich der Nebel, und ich war wieder „da“.
Was ist das? Mir sind solche Phänomene später in der Aufstellungsarbeit wieder begegnet. Meine erste selbst geleitete Aufstellung etwa während der Ausbildung bei EURASYS ging so: Die Gastdozentin fragte, wer denn im Plenum, also vor 30 Leuten, mal selber gerne eine Aufstellung leiten würde. „Ich!“ Es begann ganz gut, aber nach fünf Minuten ging es nicht weiter. Ich hatte plötzlich dieselbe Leere im Kopf wie zwanzig Jahre zuvor in Leipzig. Besser kann man sich kaum blamieren.
Die Gastdozentin wartete, bis ich mich wieder äußern konnte, gefühlt eine Ewigkeit: „Ich glaube, ich brauche Hilfe.“ Sie meinte trocken: „Wurde ja Zeit.“, brachte die Aufstellung mit wenigen Interventionen in Ordnung und ich setzte mich wieder. Sie signalisierte mir, dass so etwas völlig in Ordnung sei – im Unterschied zu dem Nebel damals vor dem Auditorium Maximum in Leipzig. Sie dürfte mit ihrer damaligen Gelassenheit dazu beigetragen haben, dass ich es überhaupt für möglich hielt, in dieser Arbeit selber tätig zu werden. Immerhin war der erste Versuch „gegen den Baum gegangen“.
Ich habe im Laufe der vielen Aufstellungen, die ich inzwischen begleiten durfte, etwas gesehen, das ich zunächst überhaupt nicht einordnen konnte. Ich nenne ein typisches Beispiel: Jemand steht beim Lebens-Integrations-Prozess als Klient auf der erwachsenen Position (4). Sein Stellvertreter für die ungeborene Zeit ihm gegenüber (Pos.1) reagiert auf ihn, als wäre dies gar nicht der erwachsene Mensch von heute, sondern der prügelnde Vater von damals. Vorher hatte der Klient mir gesagt, dass er als Kind viel geschlagen wurde.
Ich habe immer und immer wieder gesehen, wie Stellvertretungen auf der 1, 2 oder 3 die Frau oder den Mann auf der 4 für dessen Mutter oder Vater von damals hielten. Sie reagierten darüber hinaus auch so, als wären diese Eltern noch immer so gefährlich oder bedürftig, krank oder abwesend, wie sie sie tatsächlich während Ihrer Kindheit oder Jugend erlebt hatten.
Ich bat die Klienten auf der 4 dann, einmal klar auszusprechen, was im gegenwärtigen Moment der Fall ist: „Ich bin nicht dein Vater, bzw. deine Mutter.“ Die angesprochenen Stellvertreter auf der 1,2 oder 3 reagierten unmittelbar und sehr stark mit körperlichen Zeichen des Trauma-Release: sie schüttelten sich, begannen zu schwitzen oder zu zittern. Manchen wurde schwindlig, übel oder schwarz vor den Augen, einige begannen heftig aufzustoßen. Es passierte immer wieder, in unterschiedlichsten Konstellationen.
Ich konnte mir dieses Phänomen nicht erklären, bis mir irgendwann das Wort „Symbiose“ durch den Kopf ging. „Symbiose“ bedeutet ja, dass ich mit etwas zusammenlebe, das ich nicht selber bin, ohne von diesem Zusammenleben die geringste Ahnung zu haben. Für das Ungeborene im Mutterleib ist Symbiose der natürlichste Vorgang der Welt: „Ich lebe mit einer Frau zusammen, die nicht ich selbst ist, und ich weiß nichts davon, weil ich es nicht anders kenne.“ Das haben wir alle so erlebt. Diese Frau wird dann unsere Mutter, wenn wir irgendwann nach der Geburt beginnen, sie als ein Gegenüber wahrzunehmen. So kommen wir ins Dasein.
Ich fragte mich: wie kann es sein, dass dieser ursprüngliche Vorgang des symbiotischen Zusammenlebens auch außerhalb des Mutterleibes immer wieder aufs Neue passiert? Meine Vermutung ist: Symbiose scheint immer dann zu entstehen, wenn etwas Lebens-Entscheidendes geschieht. Die erste lebensentscheidende Situation, der wir ausgesetzt waren, ist zweifellos unsere Zeugung bzw. die Empfängnis. Vorher war unser Leben ja nicht nicht da. Mit der Empfängnis bzw. der Zeugung ist es da, sind wir da. Etwas Lebens-Entscheidenderes gibt es zunächst nicht.
Es scheint nun so zu sein, dass alles, was in der Umgebung dieser lebensentscheidenden Situation da ist, in die Symbiose mit hineingerät. Bei der Zeugung/Empfängnis wären dies: die Sprache, die räumliche Gegend, also das Land, die Stadt, das Dorf, die elterlichen Familien samt deren Lebensgeschichten. Später im Leben, wenn sich diese Symbiose in ein Gefühl übersetzt, nennen wir sie „Heimat“. Alles, was da ist, fällt im Moment der Empfängnis bzw. Zeugung in diese grundlegende Symbiose mit hinein.
Das bedeutet in meinem Falle: ich als Hallenser lebe bis heute mit dem ursprünglichen Eindruck „Halle“ zusammen. Ich lebe weiterhin bis heute mit dem ursprünglichen Eindruck „Mama“ in der konkreten Gestalt von Dagmar Luise Geßner, geborene Gottschling im Jahre 1938 zusammen, ebenso wie mit dem ursprünglichen Eindruck „Papa“ in der konkreten Gestalt von Horst Alexander Geßner, Jahrgang 1935. Das lässt sich nicht löschen.
Die ursprüngliche Symbiose bedeutet offenbar: „Ich bin eins damit. Und ich weiß nichts davon.“ Ich wusste bei meiner Zeugung bzw. Empfängnis nicht, dass ich in eine evangelische Pfarrersfamilie hineingeraten war. Kein Kind weiß im Moment seiner Entstehung, ob es etwa in eine Familie der Amish-People, der Samen in Lappland, eines afrikanischen Stammes oder eines sächsischen Lehrer-Ehepaares hinein gezeugt oder empfangen wurde. Es scheint aber so zu sein und man lebt ab da mit allem zusammen, was diese Familie geprägt hat.
Das Zweite: mein Leben habe ich ja nicht gemacht, sondern ich habe es empfangen, oder genauer: ich bin durch die Verschmelzung zweier Leben, meines Vaters und meiner Mutter, überhaupt erst ins Leben gekommen. Man kann nicht nicht einmal sagen, dass man das Leben empfangen hat, sondern man ist ein weitergegebenes Leben. Woher kommt nun die offensichtlich unabweisbare Tendenz des Lebens oder des am-Leben-Seins, sich mit lebensentscheidenden Umständen, Menschen und Dingen zu verbinden?
Zunächst einige weitere Beispiele, um deutlich zu machen, wie radikal dieses Phänomen tatsächlich wirkt: Einmal hatte ich eine Aufstellung mit einer Frau, die per Kaiserschnitt zur Welt gekommen war. Die Aufstellung „klemmte“ zunächst. Es fehlte etwas, in der Qualität so ähnlich wie ein vor der Geburt verstorbener Zwilling. Aus einer Eingebung heraus stellte ich das Skalpell, welches damals den Kaiserschnitt vollzogen hatte, mit dazu. Das war’s. Diese Frau seit dem Moment ihrer Geburt per Kaiserschnitt symbiotisch mit dem dem Erlebnis „Skalpell“ verbunden, denn das Skalpell hatte sie gerettet. Und ihre Mutter ebenso. Das lebensentscheidende Ereignis kann also eine Rettung sein, oder auch eine als vernichtend erlebte Bedrohung.
In Dresden habe ich mit Menschen gearbeitet, die als Jugendliche im Februar 1945 aus einigen Kilometern Entfernung gesehen hatten, wie Dresden bombardiert wurde und verbrannte. Eine Frau hatte mit Entzündungen, Flammen und Hitze zu tun, ihr ganzes Leben lang. In ihrer Aufstellung musste eine Stellvertretung für das Feuer, in dem Dresden damals verbrannt war, hinzu. Es zeigte sich, dass diese Frau sich damals als Vierzehnjährige innerlich mit dem Feuer verbunden hatte. Sie lebte seitdem symbiotisch mit dem Erlebens „Feuer“ zusammen, ohne es zu ahnen. Auch hier entwickelte sich die Aufstellung in ähnlicher Weise wie bei Menschen, die sich aus der intrauterinen Symbiose mit einem vor der Geburt verstorbenen Zwilling lösen. Nur: es war kein Zwilling, es war das Erleben des brennenden Dresden 1945.
Die nächste Frage für mich war nun: Wenn es tatsächlich so ist, dass unser Leben die unabweisliche Tendenz hat, sich mit subjektiv als lebensentscheidend wahrgenommenen Ereignissen, Menschen, Umständen oder Gegenständen zu verbinden und wir fortan damit leben müssen, ohne etwas davon zu ahnen – wozu soll das gut sein? Für mich zeigte sich hier etwas Neues: Es könnte unsere Überlebens-Chancen radikal erhöhen.
Ein Beispiel: In der Körperpsychotherapie gibt es die Erfahrung, dass sich das Ereignis der Geburt, so wie es praktisch-konkret-physisch stattgefunden hat, in den betroffenen Menschen immer wieder neu reproduziert und von selber inszeniert, wenn sie im weiteren Lebensverlauf in etwas Neues gehen müssen. Ich erinnere mich an die Aufstellung einer Frau, die per Becken-Endlage zur Welt gekommen war. Wilfried Nelles sagte zu ihr: „Schau, du machst es noch immer so: du gehst mit dem Hintern voran in das Neue.“
Bei manchen Menschen legt sich während ihrer Geburt die Nabelschnur ein- oder zwei Mal um ihren Hals. In der Folge geht es gegen Ende der Geburt oft weder vorwärts noch rückwärts. Der Druck der Presswehen – hinaus ins Leben – bedeutet gleichzeitig für sie: „Das hier könnte mich umbringen!“ Ich bin darauf gestoßen bei der Arbeit mit Menschen, die sich nur schwer entscheiden konnten. Sie konnten nicht klar sagen: „ja“ oder „nein“ oder „ich gehe in einen neuen Beruf“ oder was auch immer. Bei ihren Aufstellungen landeten wir dann häufig bei der Geburt, mit der Nachricht: „Ich hatte die Nabelschnur um den Hals.“ Das bedeutet für mich: Wir scheinen mit dem subjektiven Erlebnis unserer Geburt für den Rest unseres Lebens zusammenzuleben.
Meine Geburt im Jahre 1964 ist nun schon lange her. Wenn ich in etwas Neues gehe, bin ich immer noch zunächst lange vorsichtig, und dann geht es plötzlich sehr schnell. Als kleiner Junge hörte ich, meine Geburt habe quälend lange gedauert und sei sehr schmerzhaft gewesen. Ich bekam dabei immer ein schlechtes Gewissen. Ich war mir keiner Schuld bewusst und hatte trotzdem ein schlechtes Gewissen. In meinem Fall wurde das zu einem inneren Habitus. Das schlechte Gewissen begleitet mich bis heute, wenn ich in etwas Neues gehe.
Wenn ich davon loskommen wollte, und ich habe nahezu alles versucht, was man therapeutisch dazu anstellen kann, es würde nicht gelingen. Inzwischen nenne ich dieses Phänomen „die primäre Symbiose“. Sie betrifft unser „Damals“. Sie entsteht, wenn sich mein Leben mit etwas Anderem verbindet, weil ich zum allerersten Mal von dieser konkreten Situation den subjektiven Eindruck habe: „Jetzt geht es um Sein oder Nichtsein!“ Diesen Vorgang kann man nicht direkt wahrnehmen, er vollzieht sich sozusagen hinter unserem Rücken. Die primäre Symbiose bleibt. Sie lässt sich nach meinem Eindruck mit keiner Therapie, und sei es eine noch so tolle Aufstellung, Hypnosesitzung oder was auch immer, irgendwie auflösen.
Wie kann es sein, dass etwas, was mich damals im Jahre 1964 geprägt hat, heute noch so aktiv ist? Wie kann es sein, dass das Leben einer Frau nach fast 70 Jahren noch von dem Eindruck des brennenden Dresden bestimmt war, mit körperlichen Hitzewallungen, wiederkehrenden Bränden usw.? Wie kann es sein, dass die Schärfe des Skalpells noch 50 Jahre nach der Geburt per Kaiserschnitt im Leben der beschriebenen Klientin einen Platz einnahm, den von der Massivität seines Einflusses her sonst nur verstorbene Zwillinge oder andere tote Geschwister einzunehmen vermögen?
Ich nenne dieses Phänomen die „sekundäre Symbiose“. Sie betrifft unser „Jetzt“. Sie bedingt, wie wir heute noch mit einem symbiotischen Geschehen von damals zusammenleben, ohne das wahrzunehmen. Wie so etwas möglich ist, wird deutlich in der Anfangsszene, wo ich Klienten beschreibe, deren Stellvertreter von damals sie gar nicht als die Erwachsenen von heute erkennen, sondern sie für den damals prügelnden Vater halten. Im inneren Vorgang heißt das: sie halten sich selbst für den prügelnden Mann von damals oder auch für die damals früh verstorbene oder anderweitig fehlbare Mutter.
Die „sekundäre Symbiose“ nun kann sich im Gegensatz zur primären tatsächlich auflösen. Dies scheint der Vorgang zu sein, mit dem wir hier bei Aufstellungen und Beratungsgesprächen arbeiten und etwas ausrichten. Die sekundäre Symbiose löst sich auf, indem wir sie sehen. Sie kann nur existieren, solange sie unbewusst ist. Symbiose wird jedoch alles tun, um unbewusst bleiben zu können, denn sie dient, wie schon erwähnt, unserem Überleben. Sie wird sich verteidigen.
Man sieht das am Verhalten eines jeden ungeborenen Kindes im Mutterleib. Solange es dort drin bleiben kann, ist es seines Lebens sicher. Wenn es hinaus muss, wäre die Trennung vom Mutterleib die Auflösung der Symbiose und gleichzeitig der Tod. So etwas wie „Draußen“ gibt es aus der Innenperspektive des Mutterleibs nicht. „Draußen“ wäre gleichbedeutend mit absoluter Lebensgefahr, denn das Ungeborene kann bis zur Geburtsreife nur als ein in die Mutter eingelassenes, ganz und gar völlig symbiotisches Wesen am Leben bleiben.
Das Kind innendrin tut alles, um innendrin bleiben zu können. Es scheint daher zum Wesen von Symbiose als Phänomen zu gehören, dass sie bleiben will. Wenn ich also die Erfahrung bei der Geburt gemacht habe: „So und so ging das vonstatten.“, und meiner Umgebung tat es weh, und meine natürliche Reaktion darauf ist ein schlechtes Gewissen, dann ist das die Art und Weise, wie jemand mit dieser konkreten Geburtserfahrung in etwas Neues kommt. Es hat als „Gesamtpaket“ damals im Jahre 1964 funktioniert, es wird mit hoher Wahrscheinlichkeit wieder funktionieren und meine Überlebenschancen beim Schritt in etwas Neues erhöhen. Ebenso wie bei der Frau mit dem Hintern voran oder bei der Frau mit dem Kaiserschnitt: es hat funktioniert.
Die primäre Symbiose mit der Geburt liefert ein Manual, eine Handlungsvorschrift, ein Paradigma, eine in unsere Körper eingeschriebene Gebrauchsanweisung dafür, wie man mit größerer Sicherheit des Überlebens in etwas Neues kommt. Denn: es hat ja damals funktioniert, es wird wieder funktionieren. Das ist eine Leistung, die nach meinem Eindruck „Bewusstsein“ voraussetzt. Es scheint auch eine Leistung zu sein, die möglicherweise an der Entstehung von „Bewusstsein“ beteiligt ist.
Ich denke dabei an Wolfgang Giegerichs Aufsatz über „Gewalt aus der Seele“. Darin schreibt er spekulativ über die Ursprünge der Wahrnehmung des menschlichen: „Ich bin da.“, welche uns zu Menschen macht im Unterschied zu Tieren, die das in dieser Entschiedenheit vermutlich nicht von sich wahrnehmen. Giegerich nimmt an, dass diese spezifisch menschliche Selbstwahrnehmung aus dem „Trauma“ kommt, dem Trauma des gemeinschaftlichen Tötens. Sein Bild dafür ist die kollektive Großwildjagd von Frühmenschen, bei der Wildpferde, Büffel oder was auch immer über steile Klippen getrieben werden und dabei umkommen.
Die Frühmenschen erleben, wie ihre Beutetiere sterben. Sie machen dabei die kollektive Erfahrung: „Diese Tiere sind tot, wir haben sie sterben sehen, und wir waren es. Dann schauen wir uns an und bemerken: wir sind noch lebendig.“ Die Katze, welche die Maus fängt, zubeißt und das Blut schmeckt – weiß sie, dass sie diese Maus gerade getötet hat? Keine Ahnung. Die Menschen, welche eine Herde von Wildtieren in die tiefe Schlucht treiben und dann unten beim Sterben noch nachhelfen, damit sie zu essen haben und Felle und Knochen und Sehnen, scheinen irgendwann ein Wissen entwickelt zu haben, zunächst in Form der puren Wahrnehmung: „Diese Tiere sind tot, wir selbst jedoch nicht. Und wir waren es, die das das getan haben.“
Die zweite, sekundäre Form der Symbiose kann nur entstehen, wenn in der Gegenwart ein Umstand eintritt, der dem von damals ähnelt, welcher zu Entstehung der primären, ersten Symbiose geführt hatte. Wenn ich in die Schule komme, wenn ich mich verliebe, mich für einen Beruf entscheide, meinen Wohnsitz ändere – immer wenn es um etwas Neues geht, aktivieren diese Umstände das erneute Zusammenleben mit der ursprünglichen primären Symbiose mit der Geburt – nun in Gestalt der sekundären. In diesem Beispiel lebe ich dann als erwachsener Mensch von heute wieder mit der Erfahrung von damals zusammen, ohne es zu bemerken.
Ich habe den Eindruck, dass die primären Symbiosen, die sich im Mutterleib ereignen, nicht nur das Verhältnis zur Umgebung, also zur Mutter, bis hin zur abgeschlossenen Geburt umfassen, sondern auch alles, was die Mutter und der Vater und die Weltgegend, in der man entsteht und die Schwangerschaft erlebt, und die Menschen, die ebenfalls in dieser Weltgegend leben, an Entscheidendem enthalten, also auch deren symbiotische innere Landschaften.
Anders ist kaum zu verstehen, warum Menschen sich auch 77 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wieder wie im Krieg fühlen, und zwar nicht, weil davon im Fernsehen berichtet wird, sondern weil ihr Körper sich so verhält, als würden sie im Bombenkeller sitzen. Nur haben damals nicht sie selbst im Bombenkeller gesessen, sondern ihre Großeltern. Der Ort, an dem die symbiotischen Phänomene vorangegangener Generationen zu uns kommen, oder wir in sie hineinwachsen, scheint der Mutterleib zu sein. Mittels der primären Symbiose verkörpern wir all das, was in ihnen noch an symbiotischen Verbindungen aktiv ist.
Ich denke da einen Mann, der oft so wütend wurde, dass er Angst hatte, seine Frau oder seine Kinder dabei zu erschlagen. Er hatte schon erwogen, sich von ihnen zu trennen, einfach um sie nicht umzubringen, dabei liebte er sie sehr. Ich fragte ein wenig nach, was es so an Ereignissen in seiner Geschichte und in der seiner Familie gab. Ich frage das nie, um die Tatsachen zu erfahren, sondern um sehen und hören zu können, womit ein Mensch innerlich zusammen lebt. Nicht, woran er vielleicht krank ist – das wäre eine ganz andere Frage – sondern: Womit lebt jemand vollkommen unbewusst in seinem Inneren? Anders gesagt: Womit ist ein Mensch symbiotisch verbunden?
Der Vater dieses Mannes war kurz nach der Zeugung bzw. Empfängnis seines Sohnes in der damaligen DDR zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt worden, in einem politischen Schauprozess. Er verbrachte diese Jahre als ein junger Mann zwischen zwanzig und fünfundzwanzig juristisch unschuldig im Knast zwischen Schwerverbrechern. Sein Sohn wurde in dieser Zeit ausgetragen, geboren, ging in den Kindergarten und saß nun als erwachsener Mann in meiner Praxis.
Seine Aufstellung zeigte dann, dass diese Wut, welche ihn und seine Familie so quälte, die Wut seines Vaters war. Das Leben in dem ungeborenen Jungen hatte sich damals mit dem Leben seines Vaters verbunden – über die Wut. Diese seine ursprüngliche symbiotische Bedingtheit ließ sich nicht ändern. Er konnte heute jedoch sehen, wo seine Wut ihren Ort hatte, ihren Sitz im Leben, und wie er mit seinem Vater sein konnte, indem er mit diesem als lebensentscheidend wahrgenommenen Abschnitt und den dazugehörigen Gefühlen – eben der Wut – symbiotisch zusammenlebte.
Als er das sehen konnte, schüttelte es ihn noch einmal gewaltig. Dann konnte er aufhören, nachträglich mit der alten Wut seines Vaters zusammenzuleben. „Sehen“ heißt hier, etwas mit Leib und Seele aufnehmen. Wir hören auf, uns dagegen zu wehren, und lassen es in unser Herz. Das ist der Vorgang des Sehens in diesem Zusammenhang. Dieser Vorgang kann die Symbiose sichtbar machen. Sie wird sichtbar, indem ich sie sehe und gleichzeitig fühle, und dabei das, was ist, zu mir kommen lasse.
Wenn ich dabei meine tatsächliche Distanz zum damaligen Geschehen wahrnehme, kann sie anfangen, aufzuhören. Dann wird es nicht mehr so häufig nötig sein, dass der alte Retter von damals – die Wut war nämlich ein Retter für das Kind, weil sie eine lebendige Verbindung zu dem Vater hinter seinen Gefängnismauern etablierte – ihn heute nicht nochmals retten muss. In diesem Sinne scheint eine sekundäre Symbiose sich tatsächlich auflösen zu können.
Wenn man jedoch genau hinschaut, kann man auch da nichts „machen“. Denn sie kann sich nur auflösen, wenn die Seele es erlaubt. Wann das der Fall ist, weiß niemand. Das kann ein Jahr nach dem Eintreten der primären Symbiose sein, es kann genauso gut auch fünf Generationen dauern. Das weiß niemand. Man kann ein wenig dafür tun, indem man sich klar macht, dass man jetzt sicher ist (im Falle des Mannes also, dass der Vater schließlich doch wieder heim gekommen war und all dies schon vor 50 Jahren stattfand), aber ob die Seele einem glaubt? Sie ist zu nichts verpflichtet.
Schauen wir vom Individuellen etwas weiter weg auf das Kollektive. Auch hier scheint zu gelten: Symbiose entsteht immer dann, wenn es um lebensentscheidende Ereignisse geht und die Menschen subjektiv den Eindruck haben: von dem, was da gerade geschieht, hängt Sein oder Nichtsein für uns ab. Ein solches Phänomen fällt mir auf im Verhältnis der Ostdeutschen und der Westdeutschen. Nach den Ende des Zweiten Weltkriegs mit der totalen Niederlage und dem gleichzeitig unabweisbaren Eindruck der Überlebenden: „Wir hatten das begonnen!“, und keiner einzigen Familie, die nicht vom Krieg irgendwie betroffen war, ob auf der Täter- oder der Opferseite oder auf beiden gleichzeitig, wurde Deutschland geteilt in Besatzungszonen.
Das bedeutet, es gab fortan Menschen und Systeme, die für ihre Besatzungszone das absolute Sagen hatten, über Leben und Tod und über alle wesentlichen Entwicklungen. In Ostdeutschland, der sowjetischen Besatzungszone, bedeutete dies: alles, was von Wert war, etwa die Hälfte der vorhandenen Industrie, wurde abgebaut und in die Sowjetunion transportiert, zusätzlich zu dem dreimal höheren Reparationsleistungen, verglichen mit den anderen drei Besatzungszonen. Und: alle, die politisch zuverlässig erschienen, wurden in die SU transportiert, auf Herz und Nieren überprüft und geschult, um dann in der ostdeutschen Besatzungszone das sowjetische Gesellschafts- und Herrschaftssystem umzusetzen, in einer Art Vasallendiktatur.
Dies führte die ostdeutsche Bevölkerung nach meinem Eindruck in eine unvermeidliche und natürlich unbewusste primäre Symbiose mit dem sowjetischen System und den Besatzern der Roten Armee. (Eigentlich vollzog sich dabei eine Vertiefung der vorangegangenen Symbiose mit der Nazidiktatur im eigenen Lande in Form des „Antifaschismus“).
Dasselbe Phänomen vollzog sich in den Besatzungszonen der westlichen Alliierten, nur mit völlig anderen Erfahrungen.Die menschen dort erlebten keine Deindustrialisierung, sondern das Gegenteil, den Marschallplan und die Berliner Rosinenbomber. Auch dies führte in die primäre Symbiose mit den machtausübenden Systemen, inklusive Sprache, Kultur, Weltsicht usw. (auch hier unvermeidlicherweise als Vertiefung der vorangegangenen Symbiose mit der Nazidiktatur im eigenen Lande in Form des Schweigens).
Die symbiotischen Verbindungen von damals scheinen in ihrer sekundären Gestalt bis heute aktiv zu sein. Eine Symbiose will nicht aufhören. Sie nimmt einen in die Pflicht. Mich wundert es nicht, dass die Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen nach all den wiedervereinten Jahrzehnten häufig noch anhält oder sich sogar verstärkt. Dafür können wir nichts. Das ist wie in dysfunktionalen Patchworkfamilien, wo sich alle immerzu bekriegen, weil die Konstruktion halt nicht stimmt. Wo jedes der Halb- und Stiefgeschwister innerlich symbiotisch mit jemandem aus einem anderen System verbunden und ihm treu ist, ohne sich das ausgesucht zu haben und ohne es ändern zu können.
Ich kenne in Deutschland Menschen, die nach wie vor vor „dem Russen“ Angst haben, nicht etwa, weil sie schon mal persönlich russische Frauen und Männer getroffen und von denen schlecht behandelt worden wären, sondern weil sie nach wie vor mit der Angst vor dem Kommunismus aus dem amerikanischen System heraus in Symbiose leben. Ebenso kenne ich Menschen, die innerlich noch immer alles wiederholen und dem Recht geben, was wir in der früheren DDR einmal im Staatsbürgerkundeunterricht über den bösen Kapitalismus gelernt hatten. Gleichzeitig sind sie im äußeren Leben höchst erfolgreiche Unternehmer und Multimillionäre. Beides ineinander zu leben ist möglich.
Wenn man mit diesen Menschen ganz konkret in das Symbiotische von damals hineingeht, kann es ziemlich heiß hergehen, weil wir plötzlich die Kämpfe von damals mit den Mitteln von heute auskämpfen. Dann steht da etwa ein dem sowjetischen System Verpflichteter und da ein dem amerikanischen System Verpflichteter, und wenn es böse wird, dann halten die sich gegenseitig ihre Atomraketen ins Gesicht. Mir scheint das überall und immer wieder vorzukommen.
Ich habe kein Rezept dagegen. Ich zeige nur, was in diesen Vorgängen aus meiner Sicht lebt und wie unausweichlich das ist. Symbiose lässt sich nicht politisch umerziehen. All die gescheiterten politischen Großversuche zeigen dies. Es geht nicht weg. In meinem persönlichen Leben bin ich hunderte von „Runden“ mit meinen persönlichen Themen gelaufen und immer wieder in dasselbe Loch gefallen, d.h. immer wieder in derselben symbiotischen Situation und dem zu ihr gehörenden inneren Ort gelandet, bis es eines Tages möglich wurde, nicht wieder dort entlang zu gehen, sondern die Straßenseite zu wechseln und das Loch da liegen zu lassen.
Eine Gesellschaft besteht aus Millionen solcher Einzel-Leben, daher halte ich es für illusionär, etwa die Fremdheit zwischen Ost- und Westdeutschen irgendwie kollektiv auflösen zu wollen. Was vielleicht helfen kann, ist Zeit, im Sinne von: Ich verrate niemanden, wenn ich meine damaligen symbiotischen Standpunkte wahrnehme und mich dennoch heute weiterbewege. Ich empfinde es nicht mehr als so gefährlich wie damals. Ich weiß es aber nicht sicher.
Zurück aus dem kollektiven Weitwinkel in das Individuelle: Der Wunsch, „es zu lösen“, möglichst radikal und ein für allemal, ist selber der Ausdruck einer tiefen Symbiose mit dem, was das zeitgenössische Ich-Bewusstsein will. Und auch diese Symbiose lässt sich nicht lösen. In ihrer primären Gestalt lebt sie in der menschlichen Biologie: Kinder müssen, um leben zu können, zur Familie gehören. Jugendliche müssen, damit sie Leben weitergeben können, die Familie verlassen. Sie müssen dazu etwas finden, wo sie „Ich“ sagen können und damit kongruent sind, etwas, das sich von dem was früher war, unterscheidet und das gleichzeitig innen drin halbwegs erträglich ist, weil man das Frühere ja immer unbewusst (symbiotisch) mitnimmt.
Der Widerspruch zwischen kindlichem Dazugehören und jugendlicher Autonomie ist nicht lösbar, aber der Wunsch nach einer Lösung hat sein Leben im Ich-Bewusstsein. Alle mir bekannten therapeutischen Schulen samt der entsprechenden Psychologien sind im Ich-Bewusstsein entstanden, von der Tiefenpsychologie über die humanistische Psychologie, die hypnotherapeutische wie die systemische, die Verhaltenstherapie u.v.a.m. In ihnen allen lebt das Versprechen: „Wir lösen das. Wir müssen nur genauer hinschauen.“ Dieses Versprechen und der damit verbundene Wunsch nach Lösung ist Ausdruck einer tiefen primären Symbiose mit dem jugendlichen Verlangen, in etwas Eigenes zu kommen (und dabei unschuldig zu bleiben). Der Wunsch ist nicht falsch, er ist sogar unvermeidlich, aber er hat mit dem, wie das Leben geht, gar nichts zu tun. So ist es eben.
Vor ein paar Wochen ging es in einem Seminar um Symptome und Symptomaufstellungen. Ich erwähnte kurz, dass es nach meiner Erfahrung im Krankheitsfalle nützlich sei, wenn drei Bereiche zusammenarbeiten: die klassische Rettungsmedizin, die wir heute als „Schulmedizin“ mit all ihren Möglichkeiten kennen, gemeinsam mit der „Erfahrungsmedizin“ in Gestalt von Homöopathie, TCM, Naturheilkunde und was es an Wunderbarem sonst da noch gibt, und als drittes das „Seelische“, als eine wie auch immer initiierte Innenschau zu den unbewussten (d.h. symbiotisch bedingten) Motiven und Loyalitäten, die in den Symptomen leben, z.B. mit Aufstellungen, Supervision oder anderweitig angemessenen Therapieformen.
In der Pause sprach mich eine junge Frau an: es hätte sie tief verletzt, dass ich von der Schulmedizin behauptet hätte, sie würde mit der Seele gar nichts zu tun haben und sich nur auf Apparatemedizin und Lebensrettung beschränken. Dies wäre sehr ungerecht, und gerade als Medizinstudentin würde sie etwas anderes lernen und sich ganz besonders auf das Seelische konzentrieren.
Ich dachte: „Na toll. Kommunikation sollte verboten werden, so gefährlich, wie sie manchmal ist.“ Ich hatte von etwas völlig Anderem gesprochen. Nach meinem Eindruck war sie bemüht, und ganz mit sich einig, ihres zu finden, und ihr Anspruch war: „Ich werde eine Ärztin, die mehr tut, als nur mittels Apparatemedizin auf technischem Wege Leben zu retten.“ Ich hatte, als fast dreimal so alter weißer Mann, einen anderen Zusammenhang genannt, und sie musste das verteidigen. Ich konnte nichts tun, außer sie freundlich anzuschauen, und zu sagen: „Du bist auf dem besten Weg, eine Ärztin zu werden, die genau das macht, was du dir vorgenommen hast.“ Das, was ich im Seminar gesagt hatte, und ihr daran entstandenes Gefühl einer Verletzung, hatten in der Sache nichts miteinander zu tun. Ihre Wahrnehmung meiner Rede wurde von der Symbiose mit ihrer Idee, welche Art Ärztin sie sein wollte, diktiert.
Ähnliches lässt sich in jeder Gruppe beobachten. Wenn eine Gruppe zusammenkommt, gibt es immer Leute, die sich wie Alphatiere bewegen. Dann gibt es die eher Zurückhaltenden, dann gibt es Untergruppen, die verbringen die Pausen miteinander oder empfinden ähnlich, dann gibt es die Außenseiter, die sich nicht zugehörig fühlen, und wiederum Leute, die wollen gar nicht dazugehören, sondern lieber kommen und gehen, wie ihnen gerade ist: Jede einzelne dieser inneren Möglichkeiten, sich selbst und eine Gruppe zu erleben, ist perfekt. Sie alle haben ihren symbiotischen Ursprung in der Art und Weise, wie wir in der Familie waren, in der wir aufgewachsen sind.
Es geht dabei um die primäre Symbiose mit einem Gefühl, wie sie tausendfach während der Kindheit entsteht. Ein Beispiel: Es gibt Menschen, die wurden als Kinder nicht wahrgenommen. Ich habe das gesehen, wenn es in der Geschwisterreihe vor ihnen tote Kinder gab. Dann sind die Eltern innerlich oft so sehr bei ihren toten Kindern, dass sie das lebendige Kind nicht mitbekommen. Das lebende Kind versucht dann, wie ein totes Kind zu sein, um auf diese Weise irgendwie ins Blickfeld der Eltern, die ja innerlich auf tote Kinder schauen, zu gelangen. Häufig kämpft es als Erwachsene in der sekundären Symbiose dann mit dem Nicht-wahrgenommen-Werden, bis diese sekundäre Symbiose mit der kindlichen Strategie des „sich tot stellen“ gesehen werden darf. Bis es soweit ist, wird sie sich in allen Gruppen „nicht gesehen“ fühlen und mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht wahrgenommen werden.
Es geht in allen genannten Beispielen nicht um das, was tatsächlich war. Es geht nie um das, was tatsächlich war. Es geht um das, was das primär symbiotische Zusammenleben mit einem Ereignis, einer Person, einem Gegenstand, einem Gefühl, einer Idee oder was auch immer uns innerlich erzählt. Was diese innere Erzählung dann in der sekundären Symbiose (der unbewussten Verbindung mit dem „Damals“) für die Psyche bedeutet, und damit für das Verhältnis von Innen und Außen, erzähle ich euch übermorgen.