Die Wand

Ein Fragment zur Theorie der Aufstellungsarbeit

Dieser Beitrag wurde in der „Praxis der Systemaufstellung – Beiträge zu Lösungen in Familien und Organisationen“ (Fachzeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen DGfS, Ausgabe Nr. 2/2014) veröffentlicht.

Vorbemerkung

Ich spreche hier nur von phänomenologisch begleiteten Aufstellungen, da mir nur diese Arbeitsweise aus der eigenen Praxis geläufig ist. „Phänomenologisch“ bedeutet, dass ich das als die Wirklichkeit nehme, was sich in der Begegnung mit Klienten, in der Aufstellung und in mir selbst als Wahrnehmung zeigt (etwa Körperempfindungen, Emotionen und Gedanken). In der konkreten Aufstellungsarbeit folge ich dieser Wahrnehmung, ohne weitere Konzepte (wie etwa „Lösung“, „Körper Geist Seele“ oder „Struktur“) zu beachten. Sie führt mich und alle anderen Beteiligten dorthin und so weit, wie es im Moment gerade möglich und angemessen ist.

 

Bewegung in Aufstellungen

Nun zum Thema: Aufstellungen zeigen Bewegungen. Das gilt für die Aufstellung von Beziehungssystemen („ich und die anderen“) ebenso wie für die Aufstellung der eigenen Lebensstufen im Lebens-Integratons-Prozess (LIP) nach Wilfried Nelles („ich und meine jüngeren Selbste“). In beiden Fällen sind die sichtbaren oder spürbaren Bewegungen streng auf die Person bezogen, welche als Klient das Anliegen einbringt. Sie stellt in ihrer Ganzheit so etwas wie den Kristallisationskern eines Resonanzfeldes dar. Resonanz ist glücklicherweise ein sehr weiter Begriff. Hier verstehe ich darunter alle menschlichen Möglichkeiten, auf dem Wege des Mitschwingens an Informationen teilzuhaben. Dazu sind offenbar nicht nur unsere anatomisch definierten Sinnesorgane geeignet, sondern unsere Körper als Ganzes. Aus dieser Fähigkeit zur Resonanz schöpfen sowohl „Aufstellungsleiter“, „Stellvertreter“ und „Zuschauer“ als auch die aufstellende Person selbst. Wir nennen diesen Vorgang „Stellvertretende Wahrnehmung“.  Geläufige Modelle dafür wie „wissendes Feld“, „morphogenetisches Feld“ oder „Quanten-Feld“ beschreiben aus meiner Sicht ebenfalls Resonanzphänomene, nur jeweils in anderen Begriffskategorien.

Aus dem Resonanzfeld der Aufstellung wachsen allen Beteiligten körperliche Impulse, Emotionen, Gedanken, Ideen und Einsichten zu. Aus ihm heraus blitzt die Wahrheit des gegenwärtigen Moments auf. Jeder einzelne Beteiligte begegnet dabei der Wahrheit seines eigenen gegenwärtigen Moments. Das bedeutet: Als Klient sieht man in einer Aufstellung sich selbst in den gerade relevanten Aspekten und Bezügen. Man sieht ausschließlich sich selbst bzw. die eigene Wirklichkeit. Etwas anderes zeigt sich in Aufstellungen nicht. Zu den Konsequenzen dieser Einsicht weiter unten mehr.

Aufstellungen beziehen ihre Energie aus angehaltenen Bewegungen, also aus Zuständen, die sich noch nicht entspannt haben. Die Spannung in ihnen ist der Treibstoff der Aufstellung. Im Alltag erleben wir diese Spannung oft als Leidensdruck, sie zeigt sich in der verhüllten Form eines Problems oder Symptoms. Wenn in einer Aufstellung die angehaltene Bewegung ins Fließen kommt, geht dies einher mit einem Kontakt zu dem ursprünglichen Schmerz, um dessen Vermeidung willen die Bewegung einst angehalten wurde. Er fließt mit der Bewegung ab, die Spannung löst sich, so weit es gerade möglich ist. Bewegungen in Aufstellungen können sich nur insoweit entfalten, wie sie in der aufstellenden Person, in Klient oder Klientin selbst, stattfinden. Die Aufstellung ist ihr Spiegel, sowohl ihres gerade relevanten Beziehungssystems als auch ihrer inneren Körper- und Bewusstseinszustände. Wenn eine Bewegung bis zu ihrer Entspannung fließen konnte, gibt es keinen Schmerz mehr. Die Spannung ist weg. Aufstellungen zu Themen ohne die Spannung einer angehaltenen Bewegung haben daher keine Energie. Bei rein intellektuellem Forscherdrang, etwa bei Anliegen, die Teil eines Symptoms sind und ein Ablenkungsmanöver darstellen, scheinen Aufstellungen unergiebig zu bleiben.

Ein alltägliches Beispiel für Bewegungen in der Aufstellungsarbeit wäre ein etwa fünfzigjähriger Mann, der seine Herkunftsfamilie aufstellt. Seine Aufstellung entfaltet die Dynamik seines gegenwärtigen Moments. Man sieht über die Stellvertreter, wo bei ihm jetzt noch Anhaftungen an damals aktiv sind, wo also Bewegungen angehalten wurden und unter Spannung stehen (Verstrickungen, Identifizierungen, Loyalitäten aus unbewusster Bindungsliebe oder wie auch immer man dies nennen mag). Man kann nicht sehen, was in seinem Leben damals „wirklich“ war. Dazu hat niemand einen verlässlichen Zugang, auch er selbst nicht. Aufstellungen sind keine Tatsachenberichte, sondern Veräußerungen aktueller innerer Anhaftungen, (Spannungs-)Zustände und Bewegungen.

 

Phänomenologie und Präzision

Daher sind Aufstellungen möglicherweise sehr ungenau, gleichzeitig jedoch von zuverlässiger Präzision. Wie kann das sein? Die Präzision von Aufstellungen liegt in ihrer hoch signifikanten Abbildung des gegenwärtigen Moments und seiner inneren Dynamiken, bezogen auf den aufstellenden Klienten. Seine im Moment relevanten Anhaftungen (angehaltenen Bewegungen) hat er vor der Aufstellung als sein Anliegen geäußert, so weit er sich ihrer bewusst war. Sie haben für ihn die Form eines Problems oder eines Symptoms angenommen. Die Spannung darin sorgt nun für die Entfaltung und für die Richtung der Aufstellung. Sie liefert damit ein genaues und zuverlässiges „Drehbuch“. Man profitiert als Aufsteller um so mehr von dieser Präzision bei der Abbildung des Gegenwärtigen, je mehr man sich den Phänomenen selbst überlässt und je weniger man sich an sonstigen Konzepten festhält. Insofern sind phänomenologisches Vorgehen und Präzision in der Aufstellungsarbeit unmittelbar aufeinander bezogen.

Natürlich zeigen sich bei unserem Modellklienten, dem etwa fünfzigjährigen Mann, auch die Anhaltspunkte aus seiner Geschichte mit der Herkunftsfamilie, welche noch immer für das Anhalten bestimmter Bewegungen und für die daraus entstehenden Spannungen in ihm sorgen. Nicht selten sind diese Anhaltspunkte so mit einer extremen oder lang andauernden Bedrohung verknüpft, dass daraus ein Trauma entstand. Trauma nenne ich in Anlehnung an Peter A. Levine ein in sich selbst verhaktes Überlebensmuster, welches die „eingefrorenen“ Überlebenskräfte von damals noch nicht freigeben konnte. Die Abbildung solcher Anhaltspunkte, beispielsweise eines unzugänglichen Vaters, einer übergriffigen Mutter oder dramatischer Kriegsereignisse bei den Großeltern, bleibt in der Aufstellung unscharf. Tatsachen an sich liegen nicht im Fokus von Aufstellungen, wohl aber die aktuelle Beziehung zu ihnen. Scharf abgebildet wird daher das momentane Verhältnis des Klienten zu seiner inneren Repräsentanz des Vaters, der Mutter und der damaligen Kriegsereignisse.

Aufstellungen befassen sich nicht mit der Vergangenheit. Sie erwecken wohl manchmal diesen Eindruck, wenn jemand noch sehr am Vergangenen anhaftet, aber man lasse sich nicht täuschen: Aufstellungen befassen sich ausschließlich mit der Gegenwart. Im Fokus von Aufstellungen liegt der gegenwärtige Umgang mit damaligen Bedrohungen, mit den Tatsachen, Ereignissen und Geschichten, die uns durch die Art und Weise unseres Umgangs mit ihnen noch heute belasten. Die Tatsachen, Ereignisse und Geschichten selber sind weder das Problem noch das Ziel einer Aufstellung. Die Probleme und Symptome unseres Beispielklienten entstehen erst und ausschließlich durch die Art und Weise seines Umgangs mit den Tatsachen, Ereignissen und Geschichten von damals.

 

Jetzt und Damals

Eine Aufstellung zeigt unser aktuelles Verhältnis zu unserem Damals und zu unserem Jetzt, sonst nichts. Es ist also nicht besonders aussichtsreich, mit Hilfe von Aufstellungen etwa Familiengeheimnisse oder verloren gegangene Informationen im Sinne von Tatsachenberichten ans Licht bringen zu wollen. Wer das versucht, geht seiner kindlichen Neugier auf den Leim. Das mag unterhaltsam sein, als Aufsteller aber läuft man auf diesem Wege Gefahr, seine Klienten zusätzlich auf ihr bedrohliches Damals festzunageln. Man verstärkt durch die Suche nach „Tatsachen“ methodisch eher die damalige Problemtrance, anstatt ihnen das sichere Jetzt zu zeigen. Die Öffnung für das Jetzt ist schon die ganze Lösung. Die Öffnung für das Jetzt scheint jedoch nicht per Willensakt herstellbar zu sein, sonst bräuchten wir keine Aufstellungen. Schauen wir also weiter, wie sich Bewegungen in Aufstellungen verhalten.

Bewegungen in Aufstellungen können sich nur insoweit entfalten, wie der „Aufstellungsleiter“, also der Mensch, der das Resonanzfeld hält im Sinne des „holding space“, sie innerlich zulässt. Das Resonanzfeld der Aufstellung unterbindet Bewegungen, denen sich der „Aufstellungsleiter“ innerlich verweigert. Dies ist bei Aufstellungen nicht anders als in anderen beraterischen oder therapeutischen Settings: Manchmal geht das Anliegen von Klienten mit einer „angehaltenen Bewegung“, also einem Schmerz in dem Selbst des „Aufstellungsleiters“, in Resonanz. Wenn er dies nicht geschehen lassen kann, sondern ausweichen muss, weil es zu weh tut oder ihn zu sehr ängstigt oder er dies mangels Erfahrung gar nicht bemerkt, hemmt seine auf diese Weise begrenzte Resonanzfähigkeit das Aufstellungsfeld und begrenzt es ebenfalls. Natürlich kann sich mit der Zeit der innere Raum des „Aufstellungsleiters“ durch die Bewegungen des Resonanzfeldes weiten, wenn er sich dafür öffnet. Seine eigene „angehaltene Bewegung“ kann ins Fließen kommen und sich entspannen. Das befeuert seine inneren Prozesse ebenso wie die seiner Klienten. Diese Dynamik macht die Aufstellungsarbeit für mich zu einem immer neuen und immer wieder herausfordernden Geschenk, und zu einem unendlichen Wachstumsfeld für alle Beteiligten.

 

Resonanzen

Wie nun weiter mit dem aktuellen System der angehaltenen Bewegungen, wie es sich in der Aufstellung zeigt? Gehört es zu unserem Arbeitsauftrag als Aufsteller, einmal gefundene „angehaltene Bewegungen“ zu lösen? Diese Erwartung wird recht oft an mich herangetragen, meist unter dem Stichwort der „Lösungsorientierung“. Ich bin da skeptisch. Ich halte mich nicht für berechtigt, absichtsvoll in eine angehaltene Bewegung einzugreifen, sozusagen wie beim Stapellauf eines Schiffes den Block wegzuschlagen und damit einen „zielführenden“ Eingriff in das leib-seelische System meiner Klienten vorzunehmen. Man kann ein System zwar „stören“, aber nicht steuern. In systemtheoretischer Perspektive können Aufstellungen sehr nachhaltige „Störungen“ sein, aber man kann nicht beeinflussen, wie sich diese Störung auswirken wird. Das leiblich-seelische System von Klienten kann möglicherweise ein entspannteres Gleichgewicht finden, wenn wesentliche angehaltene Bewegungen ins Fließen kommen, aber welche das ist und wohin sie will, weiß vorher niemand. Daher suche ich nicht nach einer „Lösung“, sondern folge einfach der Bewegung, so weit und wohin sie fließen will. Ich nehme sie als Wegweiser. Wenn sie nicht fließen will, bleibe ich da, wo sie anhält, um Klienten die Möglichkeit zu geben, dies aufzunehmen. Dann beende ich die Aufstellung. Damit vertraue ich der Präzision dessen, was im Resonanzfeld der Aufstellung erscheint.

Eine angehaltene Bewegung, die gerade nicht fließen will, ist damit nicht am Ende ihrer Möglichkeiten. Manchmal zeigen Stellvertreter mit großer Intensität bestimmte Zustände, die auf Todesangst, Demütigung, Ohnmacht, Missbrauch oder andere existentielle Bedrohungen hinweisen. Sie zeigen damit besonders hart angehaltene Bewegungen. Davon begegnen mir am häufigsten die „unterbrochene Hinbewegung“ zu Mutter/Vater, die im Trauma erstarrte Flucht/Kampf-Bewegung oder die von unbewusster Bindungsliebe aufgehaltene Bewegung in eine erwachsene Freiheit hinein. Die Herausforderung für mich als „Aufstellungsleiter“ besteht darin, in solchen Zuständen die angehaltene Bewegung zu erkennen und zu würdigen. Ich habe daran nichts zu machen, außer mit offenem Herzen hinzuschauen und meine Klienten ebenso dazu zu ermutigen. Jede noch so hart angehaltene Bewegung, also auch jeder Zustand mit hohem Leidensdruck, enthält in sich selbst die Möglichkeit, sich nach und nach zu lockern und ins Fließen zu kommen. Es braucht aber den Raum dazu.

Wilfried Nelles spricht in diesem Zusammenhang von dem „Potential einer Bewegung“ (Sommerakademie Nettersheim 2014, mündliche Äußerung). Dieses Potential entfaltet sich erst, wenn man die angehaltene Bewegung, so wie sie ist, zu sich kommen lässt und einfach wartet, ohne einzugreifen. Das Warten, ohne einzugreifen und ohne sich abzuwenden, scheint den „Raum der Möglichkeiten“ zu öffnen, indem sich auch bedrohlich erscheinende Zustände in eine fließende Bewegung hinein entspannen können. Sobald dies geschieht, sobald die oft über Jahre und Jahrzehnte konservierte Spannung sich lösen darf, beginnt sich die Bewegung selbst zu verändern. Erst jetzt kann sich das zeigen, was es neben der damaligen Bedrohung auch noch gab. Oft erscheint dann die bisher im Schatten liegende Rückseite: der Erfolg des eigenen damaligen Umgangs mit der Bedrohung. Dabei können mächtige Ressourcen auftauchen wie etwa unversehrte Lebendigkeit, hilfreiche Unterstützer, besondere Kompetenzen oder die bis dato nicht wahrgenommene eigene Kraft und Größe.

Ein Resümee meiner Beobachtungen: Für mich sind phänomenologisch begleitete Aufstellungen ein Resonanzphänomen, bei dem man als Klient sich selber sieht, etwa so wie in einem gegenüber dem Alltagsbewusstsein erweiterten Spiegel. Aufstellungen zeigen mit hoher Präzision die Gegenwart eines Menschen bzw. seines Beziehungssystems und die gerade aktiven Anhaftungen an das Vergangene. Das Vergangene selbst zeigen sie nicht. Aufstellungen machen wahrnehmbar, welche angehaltenen Bewegungen auf Entspannung warten und im Moment vielleicht bereit sind, ins Fließen zu kommen.

Um das immense Potential der Aufstellungsarbeit für mich selbst und für meine Klienten weiter erschließen zu können, scheint mir eine klare Unterscheidung zwischen dem sicheren Jetzt und dem als bedrohlich erlebten Damals nützlich zu sein. Dazu gehört ein zumindest für die Dauer der Aufstellung einigermaßen stabiler Kontakt aller Beteiligten zur aktuellen Gegenwart. Für mich als Aufsteller läuft das auf eine eher zurückgenommene Haltung und auf eine Entlastung hinaus: auf ein inneres Nicht Tun. In meine Verantwortung fällt die Unterscheidung zwischen Jetzt und Damals, sowie die daraus erwachsende Aufgabe, Klienten in ihrem Kontakt zum gegenwärtigen Moment zu unterstützen und aufzuhören, wenn dieser Kontakt brüchig werden sollte. Genau hier liegen meine Handlungsmöglichkeiten. Der Rest ist Nicht Tun.

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