Die Wand

Wenn kranke Menschen bei mir Rat suchen, besteht die gemeinsame Arbeit zunächst darin, ihren Symptomen innerlich zu folgen. Auffallend viele Symptome führen uns mitten in den Zweiten Weltkrieg. Sie bringen uns mit den Schrecken der Vorfahren in Kontakt: Flucht, Vertreibung, Vergewaltigung, Tod und Verwundung, Töten und Davonkommen. Das sind Kriegstraumen, welche drei oder vier Generationen zurückliegen und offenbar noch immer aktiv sind. Häufig passiert dann etwas Überraschendes: Sobald meinen Klienten dies klar wird, beginnt der traumatische Schrecken von damals sich hier und jetzt zu lösen. Das entlastet sie tief und nachhaltig.

Ihre Krankheit scheint in direkter Verbindung zu den Kriegstagen ihrer Vorfahren zu stehen. Mehr als siebzig Jahre danach ist das elementare Fühlen für viele meiner Klienten noch immer so eng mit dem Schrecken ihrer Vorfahren, mit lebensbedrohlichen Situationen voller Ohnmacht, Verzweiflung und unerträglichen Schmerzen verbunden, dass es häufig nicht oder nur sehr eingeschränkt gelingt. Die Empfindungen des Ausgeliefertseins und des Untergangs sind in ihnen lebendig, obwohl sie wie ich zu den Nachgeborenen gehören.

Krieg macht krank, und dies oft erst drei Generationen später. Denn kaum jemand, der einen Krieg überlebt, kommt ohne schwere Traumata davon. Ein Trauma ist zunächst ein effektiver Schutz. Es stellt körperliche und psychische Schockreaktionen bereit, damit man nach unerträglichen Erlebnissen und Todesgefahr weiterleben kann. Im Körper bleibt jedoch die volle Überlebensenergie dieser Abwehrmechanismen gespeichert, in der Psyche wird das mit der Lebensgefahr verbundene Fühlen dauerhaft verdrängt, in der Seele bleibt ein Schmerz, den die Zeit nicht heilt. Wie kommt das Trauma von damals zu uns heute? Warum entwickeln sich erst siebzig Jahre danach Krankheiten als späte Trauma-Symptome?

Die Übergabe des Traumas zwischen den Generationen findet völlig unbewusst im Mutterleib und in der Kindheit statt. Kinder müssen schon im Mutterleib den inneren Kontakt zu ihren Eltern herstellen, um am Leben bleiben und wachsen zu können. Sie erreichen Mutter und Vater dort, wo diese sich innerlich am intensivsten aufhalten: am seelischen Ort ihrer Schrecken, ihrer Traumen, manchmal ist dies der Ort von Toten. Kinder gehen in ihrer Seele unweigerlich ebenfalls an diesen Ort, um bei Mama und Papa sein zu können.

Sie tun dies auf zweierlei Weise: Entweder sie folgen Mama oder Papa in ihren Schrecken und inszenieren diese in ihrem eigenen Leben („Ich folge Dir!“). Oder sie gehen einen Schritt weiter und versuchen ihren Eltern etwas von dem Schrecken abzunehmen („Lieber ich als du / Ich tue alles für dich, egal was es mich kostet!“). Kinder gehen schon im Mutterleib darin so weit, dass sie ohne zu zögern ihren eigenen Tod in Kauf nehmen, wenn sie damit ihrer Mutter oder ihrem Vater auf existentielle Weise dienen können. Fehlgeburt oder Kinderlosigkeit sind in diesem Licht noch etwas anderes als rein medizinische Probleme.

Meine Arbeit zeigt, dass es bei vielen Krankheiten erleichternd wirkt, wenn wir ihren Symptomen innerlich dorthin folgen, wo sie hinwollen. So können wir den Schmerz von damals ansehen und würdigen. Das lässt ihn zur Ruhe kommen, seinen angemessenen Platz finden und dabei heilen. Der Schmerz des Krieges hatte sozusagen noch nicht mitbekommen, dass jetzt Frieden ist. Während der gemeinsamen Arbeit sagen meine Klienten und ich ihren Schmerzen: Der Krieg ist vorbei. Meistens glauben sie uns.

Mehr dazu in meinem Gespräch mit Ralf Winkler über Trauma und Trauma-Entspannung.

 

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