Die Wand
Stellen Sie sich vor, Sie könnten sich aussuchen, mit wem Sie unterm Weihnachtsbaum sitzen, den Gabentisch plündern und an der Festtafel ins Gänsenbratenkoma fallen. Falls Sie sich nicht schon vor dem Nachtisch zerstreiten, weil Sie bei der Auswahl für Ihre Tafelrunde etwas durcheinander waren. Beginnen wir bei den Kleinen, Ihren Kindern, falls Sie welche haben und die sich noch oder schon wieder im weihnachtsfähigen Alter befinden. Hatten Sie sich diese Kinder ausgesucht, damals, als Sie mit dem anderen Elternteil … nicht wahr? Haben Sie sorgfältig gewählt, etwa Klang der Stimme, Geschlecht, Duft der Haare, Intelligenzquotient, Anzahl der Sommersprossen?

Oder wurden Ihnen diese Kinder zugeteilt, wie zufällig? Sie finden zwar Ähnlichkeiten mit sich, aber es gibt auch Unbegreifliches und Fremdes bei ihnen? Die Ergebnisse der Lotterie namens „Familienplanung“ sitzen nun an Ihrem Tisch und streiten sich um Wettkampfzeit an der neuen Spielkonsole, um den übriggebliebenen Nachtisch oder einfach aus Gewohnheit.

Und die anderen am Tisch, Schwiegereltern, eigene Eltern, Großeltern, Geschwister, Onkels und Tanten, Enkel, Urenkel, wer auch immer da futtert? Sind Sie mit Ihrer Wahl zufrieden? Sitzt da genau die Mutter, die Sie sich gewünscht hatten? Nicht? Oh, wie hätte sie denn sein sollen? Am besten nicht da? Ja, verstehe. Dann wären Sie aber auch nicht da, oder Sie wären jemand ganz anderes. Mit dieser Mutter konnte nur jemand wie Sie herauskommen und andersherum. Nicht? Hm. Woher wissen wir eigentlich, wie unsere Mutter hätte sein sollen? Wegen all dem, was wir gebraucht hätten, aber nicht von ihr bekommen haben? Ja, woher sonst. Ok, verglichen mit Mutti hat der Weihnachtsmann einen Ferienjob.

Aber lassen wir das, es ist ja Weihnachten, gönnen Sie sich was Gutes: Nehmen Sie sich ein paar halbwegs schalldämmende Kopfhörer und legen Sie sich Musik auf die Ohren, seien es Bach, Rammstein oder Helene Fischer, was Ihnen grad gut tut. Schon wird die weihnachtliche Familienszene zum Stummfilm mit selbstgewähltem Soundtrack. Und nun stellen Sie sich vor, Sie hätten all diese Menschen beim letzten Einkauf im Supermarkt getroffen. Sie wissen nicht, wer sie sind, wie sie heißen, was in ihnen vorgeht, wo sie herkommen. Sie wissen gar nichts, Sie schauen nur.

Die Kleine da schmollt. Sie sitzt vor einem Berg frisch ausgepackter Geschenke. Sie haben diesen Schmollmund schon mal irgendwo gesehen, aber wo nur? Der Alte da drüben erzählt Geschichten. Er scheint ein verzücktes, jedoch imaginäres Publikum zu begeistern. Die Frau neben Ihnen riecht gut, woher kennen Sie nur den Duft? Sie isst immer weiter, als ob es kein Morgen gäbe, zwischendurch schenkt sie allen ein. Das Paar dahinten auf dem Sofa schweigt sich an. Man kann es genau sehen, während sie angeregt Konversation machen und zuversichtlich wirken, genau wie in einer Werbung für Versicherungen.

Nun denken Sie sich, die ganze Szene gehöre zu einem beliebten Gesellschaftsspiel. Es heißt „Weihnachten unter Fremden“. Kurz vorm Jahreswechsel gilt es hierzuland als der Straßenfeger schlechthin. Man lässt sich vom Zufall eine Familie als Tafelrunde zuweisen, sorgt für Essen und Geschenke, und los geht’s. Die Spielregeln sind einfach, es gibt drei Aufgaben: 1. Überlebe drei Tage lang, körperlich möglichst unversehrt. 2. Erwarte Unmögliches von deinen Tafelgenossen und von dir selber. 3. Genieße dein Familienglück (gilt auch, wenn die Familie abwesend, gestorben oder anderweitig nicht vorhanden ist).

Die Rollen ergeben sich von selbst, manchmal wechseln sie auch: Vater, Mutter, Kind, Bruder, Schwester, Onkel, Tante, Opi, Omi – wer weiß das schon, sind ja alles fremde Menschen. Es gibt kleine Mädchen, die geben am weihnachtlichen Spieltisch die Mutter, die Augen überall. Sie sind dann Papis Beste. Es gibt ergraute Herren, die müssen bald noch mal raus, weil die Jungs warten. Es gibt da halbwüchsige Ritter, die sorgen für Mama’s Glück, dass es eine Freude ist. Genau so, wie Mami sich einen richtigen Mann vorstellt. Es gibt Frauen, die halten ihren kleinen Sohn für ihren Vater und fürchten sich vor dem armen Dreikäsehoch, so wie damals. Es sollen auch ab und an Männer mitspielen, die verwechseln ihre Frau glatt mit Mutti, aber das ist wohl eher die Ausnahme.

Während Sie Bach, Rammstein oder Helene Fischer durch Ihr Gehirn tönen lassen, nehmen Sie sich noch etwas Wein und schauen dem Verwechslungsspiel unterm Weihnachtsbaum zu. Manche der Spieler nehmen ihre Rollen so ernst, dass sie schon an der ersten Aufgabe scheitern: drei Tage lang körperlich unversehrt überleben. Sie scheinen glatt zu vergessen, dass die Teilnahme hier vom Zufall organisiert wird, ihnen also einfach so zugefallen ist. Niemand kann was dafür. Es hätte auch andere treffen können, hat es aber nicht (das ist ja der Witz am „Zufall“). Ich weiß gerade nicht, ob “Zufall“ der beste Ausdruck ist für den, der bei „Weihnachten unter Fremden“ das Casting macht. Andere sagen „das Leben“ oder „Gott“ oder „Schicksal“, na ja, jedenfalls etwas oder jemand, dem das Aussehen nicht so wichtig ist.

Wenn Sie nun so da sitzen und sich die ganzen Fremden in Ihrem Wohnzimmer anschauen, vielleicht denken Sie ja: „Ach, es wäre doch toll, wenn der Alte da drüben nicht so tun müsste, als wäre er mein Opa. Dann könnte ich ihm auch mal zuhören. Oder das Mädchen mit der Schmollschnute, sie müsste sich nicht so benehmen, als wäre sie meine Tochter. Dann müsste ich mir um sie keine Sorgen machen. Und die Frau da, direkt neben mir, sie müsste nicht so gucken, als wären wir schon lange verheiratet. Vermutlich denkt sie, alte Eheleute gucken halt so. Ohne diesen Blick könnte ich sie einfach auf den Hals küssen und dabei etwas Rotwein verkleckern.“

Nun können Sie die Kopfhörer wieder abnehmen. Es sind tatsächlich Fremde, die da unterm Weihnachtsbaum das tun, was sie sich so unter Weihnachten vorstellen. Der einzige, den Sie einigermaßen kennen, sind Sie selber, und noch nicht mal Sie haben sich selber ausgesucht. Sie waren beim Casting nicht dabei, Sie wurden sich zugeteilt. Genau wie die andern auch. Die Rollen bei „Weihnachten unter Fremden“ sind Rollen, weiter nichts, ob sie nun „Opa“, „Mutti“, „Tochter“ oder „Enkel“ heißen. Niemand hat sie selbst gewählt, niemand kann sie von sich aus ablegen, es sei denn … aber nein, das klingt zu absurd. Wie, Sie wollen wissen, wie man jemanden aus seiner Rolle entlässt? Ganz einfach: man atmet aus. Man atmet ein. Dann sagt man: „Ich sehe dich. Ich weiß dich nicht. Ich weiß mich nicht.“ Dann geschieht eine Verwandlung.

Wenn es gut geht, erscheint vor Ihren Augen ein Mensch, den Sie nicht kennen. Aus „Mutti“ wird eine unbekannte Frau. Vielleicht hat sie ein schönes Lächeln. Aus „Opa“ wird ein fremder, möglicherweise interessanter Alter, aus der „Tochter“ mit dem Schmollmund ein kleines Mädchen, das müde ist. Aus „Papa“, „Sohn“, „Ehemann“ wird ein Fremder, ein unbekannter Reisender, dem man erst mal Wein nachschenkt, weil ja Weihnachten ist.

Legen Sie die Kopfhörer ruhig wieder an, vielleicht möchten Sie auch an die frische Luft. Machen Sie sich’s schön, Sie können nichts dafür. Sie hatten keine Wahl, niemand von Ihren Gästen hatte eine. Weihnachten ist immer „Weihnachten unter Fremden“, und alle spielen mit. Die drei Aufgaben des Spiels widersprechen sich heillos. Da ist nichts zu machen, außer es wird den Beteiligten klar, dass es ein Spiel ist, ein Tanz mit verteilten Rollen. Nichts sonst. Dann lösen sie sich wie von selbst.

Wer hinter dem Spiel steckt? Keine Ahnung. Das Weihnachtsgeheimnis? Sie selber? Der Weihnachtsmann jedenfalls nicht, der hat doch die Rolle seines Lebens, oder? Schöne Feiertage!
 

3 Kommentare

  1. Mario Herzog

    Homo ludens
    Das Glasperlenspiel in schier endlosen Ausführungen.

    Danke,Thomas, für Augenblicke schmerzlichster Helle.

    Liebe Grüße
    Mario (aus Weimar)

    Antworten
  2. Thomas Geßner

    Hallo Mario, vielen Dank und herzliche Grüße nach Weimar! Vielleicht sind wir selber ja das Spiel …

    Antworten
    • Mario Herzog

      Hallo Thomas,

      „Das Leben ist ein schönes Schauspiel.
      Amüsant, voller Witze.
      Das Leben ist ein Witz, hatte der alte japanische Lehrer in Kioto gesagt.
      Er war ganz ernst dabei gewesen.“

      aus dem Buch: „Ein Blick ins Nichts“ von Janwillem van de Wetering

      Viele Grüße

      Antworten

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