Wahrnehmen, was erscheint (Phänomenologie)
Was tun Sie, wenn Sie einen Menschen lieben? wurde Herr K. gefragt. Ich mache mir ein Bild und sorge dafür, dass er ihm ähnlich wird. Das Bild dem geliebten Menschen? Nein, der Geliebte meinem Bild von ihm. So beschreibt Bert Brecht sinngemäß und exemplarisch, wie üblicherweise mein Verhältnis zu anderen Menschen, zu mir selbst und zur Welt funktioniert. Ich habe ein Konzept, eine Idee, ein Ideal, eine Überzeugung, was auch immer, jedenfalls ein Bild von Anderen, von mir selbst und der Welt. Das wäre nicht weiter tragisch, wenn ich nicht darauf aus wäre, meinem Bild zum Sieg zu verhelfen und das auch noch Liebe zu nennen.
Es gibt viele, die den begründeten Verdacht hegen, diese Haltung sei eigentlich irrsinnig, habe kaum Aussicht auf Erfolg und würde früher oder später krank machen. Ich schließe mich diesem Verdacht an, ganz einfach, weil ich es noch nie geschafft habe, meinem Bild von der Welt, von anderen Menschen oder gar von mir selber zum Sieg zu verhelfen. Es geht mir besser, wenn ich die Gegenbewegung zulasse: Die Welt formt mich, das Anderssein des Anderen formt mich, mein So-Sein formt mich. Nicht ich forme. Ich lasse mich formen, ich unterwerfe mich sozusagen. Dem Leben an sich. Die Erfolgsaussichten sind gut, die Ergebnisse lassen sich mit Wachsen, Blühen und Ernten beschreiben, außerdem ist es meiner Gesundheit und meinem Wohlbefinden überaus zuträglich.
Hier kommt das Schauen ins Spiel, das „anschauen was ist“. Dieses Motto meiner Arbeit kam einfach zu mir, als unabweislicher Einfall. Es hat, soweit ich bis jetzt sehe, vielleicht drei Ebenen. Zum Einen schauen wir die Situation an, die Sie mitbringen, so wie sie ist. Wir analysieren nichts (damit würden wir ihr schon wieder ein Konzept überhelfen), wir lassen sie einfach zu uns kommen und auf uns wirken. Anschauen in diesem Sinne heißt, das Angeschaute auf sich wirken lassen, ohne etwas damit zu machen.
Dann kann auf der zweiten Ebene etwas Seltsames und Wunderbares geschehen: Die Situation, welche wir so anschauen, beginnt ihrerseits, uns anzuschauen. Wir werden von denen, die schauen, zu denen, die angeschaut werden. Die Situation entfaltet ihre Wirkung. Nicht wir formen sie, sondern sie formt uns, wenn wir das zulassen. Man braucht für diesen zweiten Schritt des Anschauens etwas Mut, weil man ja nicht im Voraus weiß, was die Situation mit einem anstellen wird. Wenn wir uns lange genug haben anschauen lassen, gibt die Situation, das Problem oder was auch immer es ist, die in ihr enthaltene Information frei.
Jetzt beginnt die dritte Ebene des Schauens. Das, was wir vorher waren und das, was die Situation uns einformt, kommt zusammen. Der bislang verborgene Gehalt der Situation kommt zu uns und nimmt sich Platz. Das kann sich wie Feuer und Wasser anfühlen, manchmal aber auch wie ein leichtes Fließen oder wie tiefer Frieden. So ist das „anschauen was ist“ in gewisser Weise schon die Lösung dessen, was ist.
Das absichtslose Schauen geht ganz von selbst den Weg durch diese drei Ebenen. Es verändert einen nachhaltig, weil neue Wahrheiten aus der jeweiligen Situation heraus zu uns kommen und bei uns wirken dürfen.