Die Eltern (I): Nehmen und Verlassen.

Blog, Lebensintegration

Was geschieht dabei?

Ganz kurz: Man nimmt seine Eltern, indem man sie verlässt. Es geht um ein Aufgeben und gleichzeitig um ein Finden.

Indem ich als erwachsener Mensch alle inneren wie äußeren Ansprüche an Vater und Mutter aufgebe, geschehen zwei Dinge auf einmal: ich beginne, meine tatsächlich vorhandene Freiheit zu realisieren, gleichzeitig stelle ich fest, dass ich allein bin. Ich bin ganz mit mir selbst. Ich stoße auf mich, ich finde mich, sozusagen. Es gibt niemanden mehr, der mir sagen könnte, wie ich leben soll. Darin finde ich eine Freiheit, die eigentlich immer schon da ist, seit ich nicht mehr zuhause wohne. Vielleicht durfte sie noch nicht wirklich bei mir ankommen.

Das „Nehmen der Eltern“ ist dasselbe wie das „Verlassen der Eltern“. Eines geht nicht ohne das andere, und beides bezeichnet innere Bewegungen erwachsener Menschen gegenüber ihren Müttern und Vätern. Das innerliche Verlassen der Eltern bringt es mit sich, sie so zu nehmen wie sie sind. Und umgekehrt. Ich nehme meine Eltern, indem ich aufhöre, sie zu verteufeln oder in den Himmel zu heben, indem ich aufhöre, ihnen etwas abzunehmen oder ihnen etwas vorzuwerfen. Ich nehme meine Eltern, indem ich sie so sein lasse, wie sie als Menschen eben sind und waren. Ich entbinde sie innerlich von allem, was ich mir unter „meine Mutter sein“ und „mein Vater sein“ je vorgestellt hatte. Damit überlasse ich diese Frau und diesen Mann ganz ihrem eigenen Dasein. Auch mich selbst entlasse ich damit aus allen Ansprüchen und Verpflichtungen, die sich mit „Kind“ verbinden.

Das bedeutet nicht etwa, dass ich nun nichts mehr mit meinem Vater und meiner Mutter zu tun hätte. Sie bleiben lebenslang meine Eltern und ich lebenslang ihr Kind. Das kann niemand jemals ändern, und es gilt auch, wenn ich sie nie persönlich kennenlernen konnte, denn ohne sie wäre ich nicht da. Ich bin ja ihre fleischgewordene Verbindung, bin aus ihren Körpern, aus ihrer Geschichte hervorgegangen. Die Eltern zu nehmen wie sie sind und sie dabei unwillkürlich innerlich zu verlassen bedeutet vielmehr, dass es nun tatsächlich zu so etwas wie einer Beziehung mit ihnen kommen kann, einem Verhältnis, das von beiden Seiten her freiwillig ist, weil es nicht auf Abhängigkeit beruht.

Nun erst vermag ich überhaupt die Frau und den Mann kennenzulernen, die sich für mich bisher hinter meinem Bild von „Mutter“ und „Vater“ verborgen hatten. Solange ich von ihnen abhängig war, also im Mutterleib, in der Kindheit oder während der langen Jugend, gab es für mich keine Möglichkeit, diese beiden Menschen so zu sehen, wie sie eben sind oder waren, unabhängig von ihrer lebensentscheidenden Rolle als Vater und Mutter. Dies gehört zum Wesen jeder abhängigen Gestalt der Liebe. Abhängige Liebe ist blind und bleibt es auch. Erst wenn sie das Ende der Abhängigkeit realisiert, wird sie sehend. Dann ist sie plötzlich erwachsen, genauer: dann realisiert sie, dass sie erwachsen ist.

Es gibt allerdingst keine Garantie dafür, dass mir jene Menschen besonders sympathisch sind, welche dann hinter der Zuschreibung „Mutter“ oder „Vater“ erscheinen. Vielleicht ist es besser für mich, Abstand zu meinen Eltern zu halten und die Begegnungen sorgfältig zu dosieren, so wie es mir eben gut tut. Die Dosierung von Nähe und Abstand entscheidet ja immer über die Qualität von Beziehungen, auch der selbst gewählten. Möglicherweise aber tauchen jenseits meines Eltern-Ideals Menschen auf, die mich interessieren und die ich tatsächlich gerne sehe.

Für das eigene Lebensgefühl ist das Nehmen der Eltern bzw. ihr innerliches Verlassen gleichbedeutend mit einer inneren Geburt. Es geht dabei um das geistige Zur-Welt-Kommen, es ist buchstäblich eine Entbindung. Dabei geschieht vieles parallel.

Das Erste: ich verlasse den Opferstatus. Ich gehe den Schritt von der Opfer- zur Täterschaft meines Lebens. Ich gehe weg von „ich kann nichts machen“ oder „ich bin ausgeliefert“ oder „ich brauche dich oder dies und das“. Gleichzeitig gehe ich hin zu „ich lasse geschehen“, „ich fühle“, „ich bin“. Ich komme von der ohnmächtige Bedürftigkeit zum frei geäußerten Bedürfnis. Dies führt mich heraus aus der inneren Abhängigkeit von der Umgebung, von anderen Menschen, von den Umständen. Es führt mich hin zu einem Vertrauen in die eigene Lebendigkeit, in das eigenen Da-Sein.

Das Zweite: „Nehmen“ bzw. „Verlassen“ der Eltern bringen mich in die eigene Kraft. Indem ich körperlich, emotional und gedanklich wirklich in mich hineinfahren lasse, dass ich tatsächlich nicht mehr auf die Eltern angewiesen bin, betrete ich „eine neue Welt“. Die Welt wird neu, wenn wir innerlich bei uns selbst bleiben. „Bei sich selbst bleiben“ heißt, den eigenen Schwerpunkt nicht mehr außen zu haben, wie es etwa ein Kind tut, weil es seinen Schwerpunkt bei den Eltern hat, oder ein Jugendlicher mit seinem Schwerpunkt z.B. in der Peergroup, weil er von den Eltern weggkommen muss. „Schwerpunkt“ ist der Ort der Aufmerksamkeit, der Ort des „Selbst“, der Ort, von dem die Impulse für das Handeln ausgehen.

Das Dritte: Ich lerne, mich selbst zu sehen. „Mich selbst sehen“ heißt, den eigenen Schwerpunkt vom Äußeren weg mehr nach innen zu nehmen. Wenn ich die Eltern genommen bzw. verlassen habe, liegt dieser Ort oder auch Fokus des Daseins weniger in meiner Umgebung, also etwa bei anderen Menschen, dafür deutlich mehr in mir selbst. Je klarer ich bei mir selbst bleiben kann, je müheloser werde ich wirksam, und zwar mit größerer Kraft als bei allen (in sich unvermeidlichen) Weltverbesserungsversuchen meiner Jugend. Außerdem werde ich unregierbar und kriegsuntauglich, da ich mich nicht mehr mit anderen verwechsle. Ich folge einfach mir selbst und übernehme die Verantwortung für alles, was dabei von mir ausgeht.

2. Mögliche Folgen

Was bedeutet das alles, und was wird davon berührt? Einige Stichworte auf den ersten Blick, diesmal in der „Wir“-Form, weil sie etwas Allgemeineres beschreiben:

Das „Nehmen der Eltern“ bzw. ihr innerliches Verlassen berührt die Möglichkeiten und Begrenzungen dafür, ein präzises Selbstgefühl zu entwickeln, sich selbst wirklich zu spüren. Es berührt unsere aus diesem Selbstgefühl kommende Beziehungsfähigkeit, denn die Beziehungsfähigkeit erwachsener Menschen reicht immer nur so weit wie ihr Selbstgefühl.

Es berührt weiterhin die Art und Weise, wie man selbst Vater und Mutter sein kann. Alles, was im Blick auf die eigenen Eltern noch nicht angenommen ist, womit wir da vielleicht noch hadern, stürmt in unseren Kindern auf uns ein. Es wird von ihnen präzise gefühlt, uns in ihren Verhaltensweisen und Symptomen vorgeführt und manchmal bis zur Weißglut auf’s Auge gedrückt. Als wir selbst noch Kinder waren, taten wir mit unseren Eltern dasselbe: unser unbewusster Liebesdienst an ihnen. Nun tun uns unsere Kinder ihre abhängige Liebe an, so lange, bis sie uns ebenfalls innerlich verlassen und als Erwachsene vielleicht beginnen, den Mann und die Frau kennenzulernen, die wir außer „Vater“ und „Mutter“ auch noch sind. Das wird spannend, auch für uns, denn erst dann lernen auch wir selbst die Frau oder den Mann kennen, der mein Kind auch noch ist neben seinem Status als „mein Kind“. Wo das gelingt, ist es ein unbeschreibliches Vergnügen.

Das Nehmen der Eltern bzw. ihr innerliches Verlassen berührt darüber hinaus das Verhältnis zum eigenen Geschlecht, zur Männlichkeit bzw. zur Weiblichkeit und damit zur Sexualität. Daran hängt z.B., wie weit man sich erlaubt, eine genussvolle und erfüllende erotische Beziehung zu sich selbst und zum Gegenüber zu erleben, wie weit man also vom „Gewissheit Haben Müssen“ der kindlichen Bedürftigkeit zum „Wollen mit ungewissem Ausgang“ des erwachsenen Begehrens gehen kann. Das Nehmen der Eltern berührt das Maß, wie weit man sich selbst Erfüllung, Erfolg, Genuss, Zufriedenheit, Wohlstand usw. gestattet, also alles, was man im weitesten Sinne Glück nennen könnte.

Es berührt schließlich die Hintergründe der meisten eigenen Symptombildungen, von bloß „hinderlichen“ Gefühls-, Denk- und Verhaltensmustern bis hin zu Krankheit, zu schweren psychischen und körperlichen Leiden. Unsere Symptome beziehen ihre Energie fast immer aus der unbewussten abhängigen Liebe zu den Eltern. Sie fordern uns sozusagen auf, unsere Eltern innerlich zu verlassen, indem wir sie „nehmen“.

Das Nehmen bzw. Verlassen der Eltern berührt unser Lebensgefühl im Ganzen. Oft verwechseln wir unser aktuelles Verhältnis zum Leben, etwa: „es ist schwer“, „es ist ungerecht“, „es ist ein immerwährender Kampf“ oder „du bekommst nichts geschenkt“, „Es ist gefährlich“ oder „ich bin eigentlich nicht für’s Leben gemacht“ mit dem Lebensverhältnis, welches für uns zu einer bestimmten Zeit unseres früheren von den Eltern abhängigen Lebens sinnvoll war, etwa im Mutterleib, in der Kindheit oder in der Jugend. Die Freiheit des erwachsenen Menschen hat ein völlig anderes Verhältnis zum Leben und zur eigenen Lebendigkeit als die des abhängigen Ungeborenen, des Kindes oder der Jugendlichen.

Es berührt auch unser Verhältnis zur Welt, also zu den Umständen, die uns umgeben, sei es beruflich, politisch, kulturell usw. Damit berührt es unser Verhältnis zur eigenen Wirksamkeit, etwa in der Arbeit oder in der Teilhabe am öffentlichen Leben. Das abhängige Kind erlebt sich gegenüber seinen Eltern (seiner „Welt“) oft als unwirksam. Das entspricht exakt seinem existentiell abhängigen Status. Mit diesem Gefühl von Unwirksamkeit hat es Recht. Der erwachsene Mensch ist per se selbstwirksam, weil den Tatsachen nach nicht mehr abhängig. Fühlt er sich ohnmächtig, erlebt er eine Erinnerung an das Kindsein.

Wie es weitergeht

„Ich nehme meine Eltern“ fasse ich in drei Sätze:

1. Ich lasse meine Mutter und meinen Vater so, wie sie sind, ohne von ihnen als Eltern etwas anderes zu verlangen.

2. Ich lasse alles, was ich mit ihnen erlebt habe, zu mir gehören, genau so, wie es damals für mich war und ohne mir etwas anderes zu wünschen.

3. Ich lasse mich selbst als das Kind dieser Menschen so, wie ich mich jetzt vorfinde, ohne mich anders haben zu wollen.

Dies ist der erste von vier Teilen. 

8 Kommentare

  1. Stephan Niederwieser

    Sehr schön, lieber Thomas. Ich freue mich sehr auf die Fortsetzung(en), in der(nen) du hoffentlich erklärst, wie man dahin kommt. Die Entscheidung ist sicher ein guter Anfang, aber sie allein wird nicht genügen. Sonst wären viele Menschen nicht in diesem ewigen Dilemma gefangen.
    Es muss ja was folgen …
    Lieben Gruß

    Antworten
    • Thomas Geßner

      Hallo Stephan,

      ich freu mich auch schon. Nächste Woche kommt die nächste. Viele Grüße!

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  2. Damara Poser

    Lieber Thomas, liebe Melanie,

    eine wundersam beglückende Osterzeit mit vielen Gelegenheiten für Müßiggang und „Zeitverschwendung“
    im besten Sinne wünsche ich Euch.
    So herzlichen Dank für die Klarheit zum Eltern-/Kind-Sein.

    Karsamstagsgrüße aus Jena mit Vorfreude auf die nächste gemeisame Zeit
    Damara

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    • Thomas Geßner

      Liebe Damara,

      dankeschön! Viele Grüße zurück, auch von Melanie

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  3. Anneke de Swart

    Irgendwie erfare ich Schritt für Schritt immer mehr. Und der Angst verwandelt im vertrouwen. Und jetzt verstehe ich auch das es ein proces ist sowie ich es erfahre. Es nur mit dem Kopf verstehen reicht nicht, und das Herz/Seele und Körper verstehen nur vertrouwen. Und das ist nur meine erfahrung:-)

    Danke für dem schönen Blog und auch ich freue mich auf dem Fortsetzungen.

    Lieben Gruß,
    Anneke

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    • Thomas Geßner

      Hallo Anneke,

      Du triffst es auf den Punkt: es geht über das Denken hinaus, und Herz/Seele und Körper verstehen nur Vertrauen.

      Danke und viele Grüße!

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  4. Erika Burchartz

    Lieber Thomas,

    fühlt sich gut und stärkend an, dass es dich als „Kollegen im Osten“ ? gibt.
    Ich erlebe meine alten Eltern nach all dem Kampf inzwischen als sehr nette, interessante Leute, die sich – so wie ich – weiterentwickeln und am Leben wachsen.
    Danke für deinen wundervollen Blog!

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