Die Eltern (II): Ideal und Wirklichkeit

Blog, Lebensintegration

Ich lasse meine Mutter und meinen Vater so, wie sie sind, ohne von ihnen als Eltern etwas anderes zu verlangen.

Für die meisten Menschen wäre dieser Satz schlicht der Aufruf zum Verrat, zum Verrat an den eigenen Idealen. Das ist er auch. Ohne diesen „Verrat“ an den eigenen Idealen, ohne den inneren Schritt vom Idealbild zur Wirklichkeit des Lebens, wird niemand innerlich erwachsen. Es gibt dabei ein interessantes Phänomen: vorher sieht es aus wie Verrat, danach ist es pure Freiheit.

Um das zu verstehen möchte ich anschauen, wie Ideale entstehen, genauer gesagt, wie und wozu wir selber sie gemacht haben. Ein Ideal ist ja eine Idee davon, wie das Leben sein sollte: die Eltern, der Partner oder die Partnerin, die Kinder, ich selbst, meine Arbeit, mein Land oder mein Urlaub. Ein Ideal ist eine innere Vorstellung davon, wie ich die Wirklichkeit haben will. Meistens gefällt mir diese innere Vorstellung deutlich besser als die Wirklichkeit selbst, also das nackte „was ist“.

Mein erstes Ideal bringe ich aus dem Inneren unserer Mutter mit auf die Welt. Es entsteht bei der Erfahrung, die alle lebenden Menschen als Embryo gemacht haben: Ich bin eins mit einer Umgebung, die mich nährt, hält und wärmt. „Mutter“ bedeutet nach dieser Erfahrung: ich bekomme sofort alles, was ich brauche, ich bin geborgen und geschützt vor allem, was mir schaden könnte.

Bei der Geburt prallt diese Erfahrung auf eine Wirklichkeit, die damit nicht das Geringste zu tun hat: Die Gebärmutter, meine bislang ausreichend geräumige Umgebung, presst sich so zusammen, dass ich unter größten Stress aus ihr herausgetrieben werde. Draußen ist es kalt und hell, innerlich passiert etwas mit mir, es beginnt zu atmen, ich bringe Töne hervor. Wenn ich Glück habe, werde ich der Frau, aus deren Innerem ich gerade vertrieben wurde, auf den Bauch und an die Brust gelegt. Nun muss ich arbeiten, ich muss aus ihr heraussaugen, was ich an Nahrung brauche. Es kommt nicht mehr von alleine über die Nabelschnur zu mir. Etwas an dieser „Mutter von außen“ fühlt sich entfernt so an wie das eben verlassene „Mutter von innen“. Ihren Herzschlag kenne ich schon mein ganzes neunmonatiges Leben lang, und doch ist sie so ganz anders.

„Mutter“ ist erst jetzt ein realer Mensch für mich. Sie freut sich, mich zu sehen, vielleicht aber auch nicht, sie hat genug Nahrung, vielleicht aber auch nicht, sie nimmt mich an ihr Herz, vielleicht auch nicht, sie hat genügend Kraft, vielleicht auch nicht, sie ist entspannt, vielleicht auch nicht. Die neue Wirklichkeit interressiert sich nicht im Geringsten für meine Erinnerung an die Rundumversorgung in der Mutter. Sie nimmt auch keine Rücksicht darauf, dass ich es nicht besser wissen kann. Ich kannte ja nur die Höhle im Inneren dieser Frau. An die allumfassende Versorgung dort bin ich gewöhnt, nicht nur das: ein Neugeborenes verkörpert jene allumfassende Versorgungswirklichkeit, das Paradies. Dort ihr ist sein Körper entstanden und so lange gewachsen, bis er reif für den Rauswurf war.

Die neue Wirklichkeit da draußen an der Mutterbrust hat vom ersten Schluck an nichts mit dem Ideal aus ihrem Inneren zu tun. Vielleicht ist dein Ideal nichts anderes als eine Erinnerung an etwas früheres, die man nun der Gegenwart entgegenhält. Von nun an wirst du deine Erinnerung an die unmittelbare Rundumversorgung überall suchen. Du wirst sie verteidigen und unbeirrbar der Wirklichkeit entgegenhalten als die bessere, erstrebenswertere Realität. Mit der Geburt kommt das Ideal in die Welt. Die erste Person, die du damit unbewusst konfrontierst, ist deine Mutter als reales Gegenüber: „Du musst wie bisher all meine Bedürfnisse präzise spüren und unmittelbar erfüllen!“ Mit ihr als Person hat das nichts zu tun, nur mit der Höhle in ihrem Leib, in die du bis eben noch eingelassen warst. Keine reale Person und keine noch so kuschlig-harmonische Umgebung wird deinem Ideal jemals standhalten können. Was nun?

 

Ideal und Wirklichkeit

Ideal und Wirklichkeit verhalten sich zueinander wie Materie und Antimaterie oder wie Voldemort und Harry Potter: „Neither can live if the other survives.“ (Keiner kann leben, wenn der andere überlebt.) Ideal und Wirklichkeit geraten sofort in Konflikte, wenn sie aufeinander treffen, Kooperation ist ausgeschlossen. Das Ideal kämpft, die Wirklichkeit nicht. Die Wirklichkeit muss niemals kämpfen, sie ist einfach da. Die Wirklichkeit ist jeweils das, „was der Fall ist“ (Wittgenstein). Sie wirkt einfach, von Moment zu Moment, immer frisch und neu. Das Ideal hingegen ist immer schon veraltet, denn die Mutterhöhle ist Vergangenheit. Sie bleibt es auch, ganz gleich wie sehnsüchtig wir ihr Erinnerungsbild vor uns hinwerfen und erwarten, dass die Wirklichkeit sich diesem Bild entsprechend verhält. Mutter und Vater sind niemals ideal.

Im Kampf des Ideals gegen die Wirklichkeit habe ich bei körperlich Erwachsenen bisher drei mögliche Ergebnisse gesehen: 1. Das Ideal geht unter. Dann wird aus dem Kampf eine Geburt im vollen Sinne, die Geburt in die Wirklichkeit hinein, in einen neuen Lebensraum, eine neue Bewusstseinsstufe. Dabei wird der Mensch innerlich erwachsen. 2. Das Ideal überlebt und lässt die Wirklichkeit verschwinden. Dann wird aus dem Ideal eine Neurose. Man kann die Wirklichkeit nicht mehr wahrnehmen, man reagiert auch nicht auf sie, sondern immer auf das innere Bild davon, wie sie sein sollte, auf das Ideal. Man baut die Wirklichkeit in sein Ideal ein und versteht sie auch dementsprechend. 3. Dieser Kampf bleibt unentschieden. Dann kann er in die Zerteilung des Ichs münden, auch Psychose genannt. Ein Teil lebt mit dem Ideal, manchmal auch mit mehreren, ein anderer mit der Wirklichkeit. Manchmal auch keiner.

Wichtig finde ich dabei: jedes Ideal hat mit Liebe zu tun, genauer gesagt mit dem magischen Weltbild der abhängigen Liebe. Das Ur-Ideal kommt aus der abhängigen Liebe des Embryos. Er war tatsächlich auf die Rundumversorgung in der Mutterhöhle angewiesen, um überleben und wachsen zu können. Ein Embryo tut alles dafür, dass die Mutterhöhle sicher bleibt. Er passt sich mit seiner Nahrungsaufnahme und seinen Bewegugnen, mit seiner ganzen Gestaltwerdung dem an, was er vorfindet. Seine Liebe hat ein klares Ziel: der Umgebung (= der Mutter) muss es unter allen Umständen gut gehen, damit er selbst in ihr sicher ist. Die abhängige Liebe muss immer versuchen, die Umgebung, von der sie abhängt, so zu stabilisieren, dass sie selbst sich sicher fühlen kann. Ideal und Sicherheit sind Geschwister. Das Ideal des Säuglings von der allumfassenden Versorgung ist das Spiegelbild seines Überlebenstriebes. Er kann ohne sein Ideal von der allversorgenden Mutter gar nicht sein, denn daran hängt sein Überleben. Niemand kann daher ein Ideal aufgeben, solange subjektiv sein Überleben damit verknüpft ist.

Das bedeutet: die abhängige Liebe von Embryos, Kindern und Jugendlichen produziert Ideale, weil sie sie zum Überleben braucht. Umgekehrt gibt es Ideale nur innerhalb der magischen Weltsicht der abhängigen Liebe. Besonders wichtig werden sie, wenn man sich aus der Abhängigkeit lösen muss, wie in der Jugend. Dann werden die Ideale buchstäblich zum spiegelverkehrten Abbild dessen, was wir in der kindlichen Abhängigkeit erlebt haben. Simples Beispiel: Kinder von antiautoritären Eltern, welche für sich selbst dann strenge Strukturen entwickeln. Erst wenn die Abhängigkeit aufhören darf, wird das Ideal überflüssig und löst sich auf. Dann sagt der junge Mensch: „Ich kann es anders machen als meine Eltern, muss aber nicht“ – und umgekehrt.

Genau das geschieht, wenn ich beginne, meine Eltern so zu lassen wie sie sind, ohne sie mir als Eltern anders zu wünschen: „Ich lasse meine Mutter und meinen Vater so, wie sie sind, ohne von ihnen als Eltern etwas anderes zu verlangen.“ Dieser innere Schritt wird möglich, wenn buchstäblich in mich hineinfährt, dass ich tatsächlich frei bin im Sinne von „nicht mehr von ihnen abhängig“, weder körperlich noch emotional noch gedanklich.

Ich nehme mein Selbst zu mir, so wie es in den verschiedenen Stufen der Abhängigkeit von meinen Eltern geworden ist. Im Mutterleib war mein Selbst körperlich noch ganz bei der Mutter, in der Kindheit war mein Selbst emotional bei den Eltern und der Familie, in der Jugend ist es gedanklich immer noch dort, weil ich mir in Abgrenzung von ihnen meine Individualität erringen muss. Dabei helfe ich mir, indem ich ihnen z.B. vorwerfe, was sie an mir alles falsch gemacht oder mir Schutz und Nähe vorenthalten oder mir an Grenzüberschreitungen und Schmerzen zugefügt haben. Das Kind in mir hatte mit all diesen Empfindungen recht. Aber ich bin kein Kind mehr. Ich lebe in einer anderen Welt als das Kind, das ich war. Wenn mir aufgeht, dass all dies nicht nicht mehr nötig ist, weil ich ja nicht mehr von meinen Eltern abhängig bin, öffnet sich eine Tür zur Freiheit.

Auf der Schwelle jedoch bekomme ich möglicherweise sofort Schwierigkeiten mit den nächsten beiden Sätzen: „2. Ich lasse alles, was ich mit ihnen erlebt habe, zu mir gehören, genau so, wie es damals für mich war und ohne mir etwas anderes zu wünschen. 3. Ich lasse mich selbst als das Kind dieser Menschen so, wie ich mich jetzt vorfinde, ohne mich anders haben zu wollen.“ Wenn ich mein Selbst zu mir nehme, so wie es eben auf meinem Weg geworden ist, dann begegnet mir darin alles, was ich auf dem Weg mit meinen Eltern und von ihnen weg genossen und gelitten habe. Das Wesentliche meines Lebens mit ihnen taucht sozusagen als Echo noch einmal auf: die totale körperliche Abhängigkeit im Mutterleib, sozusagen mein körperliches, völlig unbewusstes Weltbild, die emotionale Abhängigkeit in der Kindheit, sozusagen mein gefühltes und weitgehend unbewusstes Weltbild und schließlich die gedankliche Abhängigkeit der Jugend, sozusagen mein bewusstes Weltbild. Manchmal geschieht das sehr machtvoll und krisenhaft, wie bei der ersten körperlichen Geburt. Die Schmerzen der Kindheit und Jugend melden sich. Sie wollen Aufmerksamkeit. Sie wollen gesehen werden.

Alles, was ich von meinen Eltern an und in mir wiederfinde, begegnet mir sozusagen als unabänderliche Naturtatsache: Nase, Augen, Hände, die Ausstrahlung, Wesenszüge, Handlungsmuster usw. „Du bist ja wie dein Vater.“ Als junger Mann konnte man mir nichts Schlimmeres an den Kopf werfen. Als kleiner Junge noch war ich stolz darauf, der Sohn dieses Mannes zu sein. Im Mutterleib hatte ich mich ohne Widerspruch nach den Vorgaben seiner Gene gestaltet, ohne etwas davon zu ahnen. Heute habe ich das Vergnügen, diesen eigentümlich kraftvollen, sonderbar unbekümmerten und lebenszugewandten alten Mann neu kennen zu lernen. Noch lebt er.

Dies ist der zweite von vier Teilen.

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