Die Wand

Essay, zuerst veröffentlicht in „Trauma und Bewegung“, Jahrbuch der DGfS, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017.   – Teil 2 –

 

Trauma und Illusion

Hier komme ich zum zweiten vorgegebenen Stichwort meines Nachspürens, der Illusion. Vorab: Traumasymptome sind keinesfalls illusionär im Sinne von Einbildung. Sie können Menschen und ihrer Umgebung ganz real das Leben zur Hölle machen. Zugleich jedoch sind Traumasymptome die Zeugen einer fundamentalen Illusion. Sie drängen daher mit Macht darauf, endlich der Wirklichkeit Platz machen zu dürfen. Wie kann das sein? Um das zu verstehen, setzen wir uns für einen Moment dem Phänomen „Illusion“ aus.

Die Illusion gestattet mir, mich mit etwas zu befassen, das mit meiner tatsächlichen Gegenwart nicht das Geringste zu tun hat. Wenn mir die Wirklichkeit gerade nicht gefällt, lasse ich meinen Geist umherschweifen, etwa im überfüllten Bus, in einer langweiligen Vorlesung oder bei einer öden Arbeit. Meine wirkliche Gegenwart besteht vielleicht darin, dass ich sitze. Meine illusorische Gegenwart führt mich etwa an einen schönen Strand, in mein warmes Bett oder zu einer geliebten Person. Illusion heißt, ich produziere innere Bilder und fokussiere mich auf diese, ohne es zu bemerken. Man kann da etwas nachhelfen, etwa mit Fernsehen, Internet oder Drogen. Meistens genügt bloßes Denken. Menschen bewegen sich in Illusionen, ja sie leben in ihnen, indem sie sie auf sich selbst, auf die anderen und auf die Welt projizieren, wiederum ohne diesen Vorgang wahrzunehmen.

Keine Illusion ohne Bilder, also ohne innere Abbildungen von Sinneseindrücken, Körperempfindungen, Emotionen oder Gedanken: Unsere Psyche imaginiert ohne Unterlass, das heißt sie produziert unablässig Illusionen. Dazu ist sie da. Ihre Imagos, ihre Bilder, sind wiederum verbunden mit dem, was wir denken, wie wir fühlen und was unser Körper spürt.

Der Unterschied zwischen Illusion und Realität ist derselbe wie der zwischen Ereignis und nachfolgendem Trauma. Das Ereignis hört in der Realität sofort auf, wenn es vorbei ist. Es wird eben Vergangenheit. Damit entzieht es sich der unmittelbaren Wahrnehmung, und zwar für immer. Das innere Bild des Ereignisses, hergestellt aus den mit ihm verbundenen Körperwahrnehmungen, Gefühlen und Gedanken, vergeht jedoch nicht. Es hat umso mehr Bestandskraft, je mehr Energie ein Ereignis subjektiv für uns hatte, je überwältigender es für uns war.

Der Mystiker Meister Eckhart wird gern mit dem Satz zitiert: „Wenn die Seele etwas erleben will, wirft sie ein Bild vor sich hin und marschiert dann in das Bild hinein“. Damit ist die Herstellung unserer Trauma-Symptome exakt beschrieben. Im Blick auf Trauma würde dieser Satz heißen: „Wenn die Seele heil werden will, wirft sie ein Bild der Bedrohung vor sich hin und marschiert dann in dieses Bild hinein.“

Hier können wir sehen: Trauma besteht im Grunde aus einer einzigen Illusion. Es ist die Illusion, dass die vernichtende Bedrohung nach wie vor besteht. Die Tatsache, dass die Gefahr vorüber ist, dass ich überlebt habe und nun sicher bin, hat für das Trauma keine Realität. Sie wirkt im Gegenteil aus der Sicht des Traumas wie eine absurd illusionäre und vor allem lebensgefährliche Behauptung. Die Grund-Illusion „Trauma“ erzeugt ihrerseits einige typische, sich zum Teil widersprechende Illusionen:

– die Illusion, dass man noch immer ohnmächtig und also ein handlungsunfähiges Opfer sei und daher nicht selbstverantwortlich,

– die Illusion, dass man weiterhin für sein Überleben kämpfen müsse, sich nicht entspannen dürfe und daher dem Leben etwas schulde,

– die Illusion, dass man das Trauma vergessen oder beherrschen könne, indem man möglichst gut funktioniere, also möglichst umfassende Kontrolle über sein Leben gewinne,

– die Illusion, dass es daher besser, im Sinne von sicherer sei, den Schmerz nicht zu fühlen, noch sicherer, überhaupt nicht zu fühlen, denn man könne ja genauso gut auch denken,

– die Illusion, dass Trauma etwas sei, ohne dessen umfassende Aufarbeitung und Behandlung das Leben nun unausweichlich misslingen müsse.

Treffend zusammenfassen lassen sich all diese Folge-Illusionen mit dem Begriff der Neurose, wie Wolfgang Giegerich (2013) ihn neu eingeführt hat. Neurose in diesem Sinne ist eine innere Bilderlandschaft, der man unbewusst mehr vertraut als der gegenwärtigen Wirklichkeit. Wenn man sich mit den inneren Bildern identifiziert, reagiert man nur noch auf sie, nicht jedoch auf das, was ist.

Der Preis ist immer der gleiche: eingeschränkte Lebendigkeit. Eine aus meiner Sicht sinnvolle Traumatherapie strebt daher nach einem möglichst umfassenden Realitätsgewinn für Körper, Gefühl und Denken, und zwar gleichermaßen für Klienten wie Therapeuten. Die Realität, die es zu gewinnen gilt, heißt: Ich bin nicht mehr bedroht. Dazu sind ein paar Dinge nötig:

1.   Das Erleben eigener Handlungsfähigkeit im Sinne von: Ich bestimme zu jedem Zeitpunkt meine Distanz zum Geschehen. Die wunderbare, in der Aufstellungsarbeit qua Methode bereits angelegte Möglichkeit zur Distanzregulierung hilft da sehr, wenn sie entsprechend genutzt wird. Ebenfalls hilfreich im Sinne der Distanzregulierung sind Möglichkeiten des kreativen Ausdrucks von allem, was mit dem überwältigenden Ereignis von damals zusammenhängt: Tanz, Malerei und Musik bis hin zum wiederholten Erzählen vor Zeugen, die dafür offen sind.

2.   Eine Begleitung, die den körperlich-emotionalen Kontakt zum gegenwärtigen Moment hält, bezeugt und fördert im Sinne von: Ich bin jetzt sicher. Nur im stabilen Kontakt zur relativ sicheren Gegenwart lässt sich das Echo der damaligen Bedrohung überhaupt als etwas Damaliges, heute also Überstandenes wahrnehmen. Im stabilen Kontakt zum eigenen, im Moment unbedrohten Körper kann eine Situation, die der damaligen vielleicht ähnelt, erscheinen und gefühlt werden, ohne dass sie sofort als Trigger wirkt, uns wieder unmittelbar in das Erleben der damaligen Bedrohung hineinstößt und damit retraumatisiert. Sofern dieser Kontakt instabil wird, muss die Begleitung sofort reagieren, etwa durch eine Erhöhung der Distanz (räumliche Entfernung, Titrierung, Verlangsamung, Ausblenden von Details usw.), durch körperbezogene Interventionen oder durch Unterbrechung der Arbeit.

3.   Konkrete und elemtentare Hilfen für den Alltag im Sinne von: „Was tue ich, wenn …“ Für betroffene Menschen geht es darum, im Sinne der Selbstmächtigkeit nach ihrem eigenen Rhythmus einen stabileren Kontakt zu ihrer tatsächlichen Gegenwart zu etablieren. Das betrifft etwa das Gefühl für ihren Körper und für ihre Grenzen, ihre emotionale Bandbreite, das Abklingen ihrer Trigger-Empfindsamkeit usw.

4.   Ein Blick für die Ressourcen und Fähigkeiten im Sinne von: Das Trauma hat alles in sich, was es zu seiner Transformierung braucht. Ressourcen, die vom Trauma selbst genutzt und gleichzeitig entwickelt wurden, können jetzt, im Zuge seiner Entspannung immer deutlicher zur Verfügung stehen. Dazu gehören Begabungen, körperliche Prägungen, der innere Ruf, die innere Logik der eigenen Berufsbiographie und anderes mehr.

 

Außerdem können wir uns auf ein paar Dinge einstellen, die ein Trauma versuchen wird, wenn wir ihm in der Aufstellungsarbeit begegnen:

1.   Im Kern des Traumas lebt eingefrorene Überlebensenergie. Sie hat keinerlei Halbwertzeit, solange sie nicht wirklich gesehen wurde. Sie enthält noch immer jene dem Grunde nach tötungsbereite Aggression, die sich damals aufgrund des überwältigenden Ausgeliefertseins nicht in Kampf oder Flucht entladen konnte, sondern nach innen kollabierte. Kampf und Flucht enthalten die gleiche Energie, jedoch unterschiedlich ausgerichtet: Im Kampf richtet sich ihr Impuls gegen die Bedrohung, bei der Flucht fort von ihr. Im Kollaps richtet sich der Impuls der Überlebensenergie nach innen.

2.   Die „eingefrorene“ Aggression strebt nach Entladung. Die Gewalt ihres Impulses unterdrückt das Fühlen der Gegenwart heute noch immer genau so effektiv, wie sie damals das Fühlen der vernichtenden Erfahrung beim Erstarren unterdrückt hatte. Für die Entladung findet sie heute das Gegenüber, das gerade da ist. Oft bekommt man daher als Begleiter von traumatisierten Menschen eine mörderische Wut zu spüren. Sie erinnert mich an den Geist aus der Flasche in verschiedenen Märchen, der seinen Befreier zunächst umbringen will. Diese Wut ist wichtig, sie ist ein Wegweiser zur Lebendigkeit eines Menschen.

3.   Trauma hat die Tendenz, sich selbst zu erhalten, da es ja unser Überleben sichern will. Dazu nutzt es die weiter oben angesprochene Möglichkeit der Retraumatisierung. Retraumatisierung ist eine Aktivität des Traumas selbst. Es schafft sich dabei einen Circulus Virtuosus, einen Teufelskreis aus Illusionen, aus dem es allein nicht herausfindet. Die Gestalt des Teufelskreises, also der symptomatische Formenkreis eines Traumas hängt davon ab, in welcher Bewusstseinsstufe das lebensbedrohliche Ereignis erlebt wurde (Nelles, 2010), das heißt, welche Bewusstseinsstufe das Trauma erzeugt und am Leben hält. Dabei spielt der Zeitpunkt in der menschlichen Biographie eine Rolle, aber nicht nur.

4.   Ein Trauma sucht die Resonanz mit vergleichbaren Teufelskreisen, also mit Menschen, denen ähnliche oder spiegelverkehrt ähnliche innere Bilderlandschaften beim Überleben geholfen haben. Diese Resonanz der Traumata konstituiert unsere wesentlichen Beziehungen, natürlich auch die Arbeitsbeziehung zwischen Klienten und Aufstellern. Sie sorgt dafür, dass man immer die Klienten bekommt, die zu einem passen und einen gleichzeitig herausfordern. Als Aufsteller und Aufstellerin sollte ich daher spüren, wann meine eigenen Traumata sich regen. Meine Wegweiser sind dabei die sogenannten „Widerstände“, sowohl bei mir selbst als auch bei Klienten. Sie bewahren uns vor der Verwechslung von damals und heute.

Aufstellungsarbeit kann dabei helfen, den Teufelskreis des Traumas zu unterbrechen, wenn sie sich seinen Symptomen offenen Herzens aussetzt, die in ihnen gespeicherten Überlebensmechanismen aus der zeitlich sicheren Entfernung zum damaligen Ereignis anschaut und die dabei entstandenen Ressourcen und Fähigkeiten würdigt. Dies erweitert den Kontakt zur eigenen Lebendigkeit, indem es dem folgt, was die Seele offenbar will: alles enthalten und so sein lassen, wie es war. Der Kontakt zur eigenen Lebendigkeit ist für mich der zentrale Fokus beim Aufstellen. Dabei kommt das Phänomen der Spiritualität in den Blick. Spiritualität im weitesten Sinne entsteht, wenn man der eigenen Lebendigkeit begegnet. Davon handelt der dritte und letzte Teil.

Mehr lesen: Hier geht es weiter zum dritten Teil …

Literaturangaben finden Sie am Ende des dritten Teils.

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