Wenn du vorhast, ein Problem deines eigenen Lebens zu lösen, dann ergib dich ihm. Damit unterbrichst du seine Energieversorgung. Jedes deiner Probleme ernährt sich von deiner Abwehr. Von nichts sonst. Folge ihm bis zu dem Ort, wo es liebt. Dort findest du seinen Ursprung. Du wirst sogar entdecken, dass es dich liebt. Dann verliert es die Zuschreibung „Problem“. Es wird zu einer Sache, zu einer Form unter vielen. Vielleicht kommt es ab und zu als Herausforderung wieder, vielleicht vergisst du es ganz beiläufig. Das nennt man dann „Lösung“.

Den inneren Vorgang dabei nenne ich „sehen“. Sehen ist Hingabe an das, was man anschaut. „Sehen“ heißt, in allem was ist, Liebe zu erwarten, auch in ihrem offensichtlichen Gegenteil. In allem, was ist, ist Liebe. Sonst wäre es nicht da. Ohne Liebe ist nichts, denn Liebe ist die Essenz von allem, was ist. Das Gegenteil von offensichtlicher Liebe ist immer blinde Liebe. Sie sieht nicht das, was jetzt ist, sondern bleibt auf das fixiert, was früher war und auf alles, was sie damals als Bedrohung erlebt hat. Sie weiß noch nicht, dass die Bedrohung vorüber ist. Wenn sie gesehen und als Liebe erkannt wird, verliert sie ihre Blindheit und wird selber sehend. Besonders deutlich kann man das beim [intlink id=“1629″ type=“post“]Lebens-Integrations-Prozess[/intlink] beobachten.

Sehen als Hingabe – diese Art, etwas anzusehen (vielleicht das Problem eines Klienten oder ein eigenes) und (möglicherweise blinde) Liebe darin zu erwarten, unterscheidet sich grundlegend von dem, was wir normalerweise beim Sehen tun. Normalerweise ist „Sehen“ nichts anderes als „Einordnen“. Wir verbinden das, was wir sehen, im Augenblick der Wahrnehmung mit einem inneren Ordnungssystem. Es liegt zu diesem Zweck schon bereit. Es ist Teil unseres Sicherheitsapparates, sozusagen seine Eingangsabteilung. Dieses Ordnungssystem gleicht alle eingehenden Wahrnehmungen sofort mit dem vorliegenden Erfahrungsschatz ab und ordnet ihnen die jeweils plausibelsten Muster zu.

Den größten Teil unserer „Eingangsabteilung“, also unserer Erfahrungen samt zugehöriger Ordnungs- und Reaktionsmuster, haben wir gar nicht persönlich installiert. Er ist Teil unserer kollektiven biologischen und kulturellen Entwicklung. Er ist uns wie ein Programm eingeschrieben, wir finden ihn sozusagen vor. Unsere individuellen Erfahrungen und Bewältigungsstrategien ergänzen das Vorgefundene und variieren es ein wenig. Diese Muster wirken wie Filter, wie eine Art Zensur.

So kommt fast nie das Originalsignal unserer unmittelbaren Wahrnehmung bei uns an, sondern das durch die Muster Gefilterte. Man sieht also nicht das, was man „sieht“, sondern das, was man gemäß seiner Sicherheitsmuster gewohnheitsmäßig wahrnimmt, spürt, fühlt, und denkt. Man denkt, fühlt und spürt immer genau das, was einem beim Umgang mit subjektiv erlebten Bedrohungen einmal das Weiterleben ermöglicht hat. Ein genialer Trick.

Dieser Trick hilft uns, am Leben zu bleiben. Über hunderttausende von Jahren haben wir uns darin geübt, die unmittelbare Wahrnehmung durch die von ihr angeregten inneren Bilder, Gefühle, Gedanken und Handlungsabläufe zu ersetzen. Wir opfern die unmittelbare Wahrnehmung unserer Sicherheit. Diese Fähigkeit wurde zum evolutionären Vorteil der Gattung Mensch. Gleichzeitig ist sie unsere größte Bedrohung, denn sie trennt uns von dem, was wirklich ist. Sie verwechselt das „Damals“, die subjektiv erlebte und zur Erfahrung geronnene Bedrohung, mit dem „Jetzt“, also mit dem relativ sicheren gegenwärtigen Moment.

„Sehen“ im oben beschriebenen Sinne bedeutet das genaue Gegenteil. Es lässt den eigenen Sicherheitsapparat seine Arbeit tun, jedoch ohne sich von ihm stören zu lassen. Es nimmt die von ihm vorgeschlagenen Eingangsmuster zur Kenntnis, lässt sich jedoch von ihnen nicht ablenken. „Sehen lernen“ bedeutet dementsprechend, etwas zu verlernen, nämlich die Fixierung auf die Muster unseres Sicherheitsapparates. Wie verlernt man etwas? Nicht, indem man sich abwendet und es loshaben will.

Was man verlernen will, muss man anschauen und wirklich zu sich gehören lassen, mit einem Wort: Was man verlernen will, muss man lieben lernen. Dann entspannt es sich, dann verlernt es sich wie von selbst. Um als Berater/Beraterin andere Menschen sinnvoll dabei unterstützen zu können, hilft es durchaus, sich selbst „sehen zu lernen“, d.h. die blinde Liebe im eigenen Leben am Wirken zu sehen und zu spüren. Dann wird „Sehen“ zu einer inneren Haltung, zuerst dem eigenen Leben und dann dem Leben anderer Menschen gegenüber. Sehen ist Hingabe an das Leben, so wie es ist.  

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