Die Eltern (III): Vom Heimkommen der kindlichen Wünsche

Blog, Lebensintegration

„Ich lasse alles, was ich mit meinen Eltern erlebt oder nicht erlebt habe, zu mir gehören, genau so, wie es damals für mich war und ohne mir etwas anderes zu wünschen.“

Dieser Satz ist nur möglich und sinnvoll, wenn mir klar wurde, dass meine Geburt gelungen, meine Kindheit lange vorbei und meine Jugend auch vorüber ist. Gleichzeitig sorgt dieser Satz dafür, dass mir dies überhaupt erst gegenwärtig werden kann. Wie alle Sätze, die mit der Wahrheit des gegenwärtigen Moments verbunden sind, erschafft er seine Wirklichkeit selbst.

 

Bilder

Beim Erinnern vergangener Lebensstufen angesichts der Eltern gibt es ein interessantes Phänomen: Kinder ein und desselben Elternpaares haben unterschiedliche Bilder von denselben gemeinsam erlebten Situationen. Treffen sich zwei oder drei Geschwister, sind nicht etwa ein Vater und eine Mutter mit im Raum, sondern jeweils zwei oder drei. Diese drei Elternpaare müssen nichts miteinander zu tun haben. Jedes Kind hat ein anderes Elternbild und erlebt dadurch andere Eltern als seine Geschwister. Wie kommt das? Wir verknüpfen konkrete Erfahrungen mit den Eltern immerfort mit unseren Idealen von „Mutter“ und „Vater“ (Siehe [intlink id=“5291″ type=“post“]Teil II[/intlink]). Wir sind zum großen Teil die fleischgewordene Verknüpfung unserer Eltern-Erfahrung mit unserem Eltern-Ideal.

Die konkrete Eltern-Erfahrung eines Kindes wird dabei wesentlich dominiert von seinem Platz in der Geschwisterreihe und der damit verbundenen Funktion für die Familie. Die Eltern leben in unserem körperlichen Ausdruck ebenso weiter wie in der Art und Weise, wie wir fühlen und denken. Genauer gesagt: unsere emotionale Landschaft ist unser inneres Bild der Eltern, denn unsere Emotionen sind im Gegenüber zu ihnen überhaupt erst entstanden. Sie leben weiterhin in unserem rationalen Weltbild. Unser Denken begann, als wir anfingen uns spürbar von dem zu unterscheiden, was Mutter und Vater in uns sahen, als wir anfingen zu zweifeln, Nein zu sagen und in Abgrenzung zu ihnen ein eigenes Selbst als ein neues Ideal zu entwickeln. Dieses Denken bildet für lange Jugendjahre ziemlich genau eine Art Negativ dessen heraus, was wir als Kinder an unserm Platz der Geschwisterreihe mit den Eltern erlebt haben. Manchmal bis heute.

Für mich bedeutet das: „Die Eltern“ gibt es überhaupt nur als inneres Bild und damit als Konzept. Mit den realen Menschen, die uns damals gezeugt haben, die mit uns gelebt haben, die jetzt vielleicht schon alt, weit weg oder gar tot sind, hat dieses Bild nur zufällig etwas zu tun. „Die Eltern“ als innere Bilder sind die Summe all unserer Erfahrungen mit ihnen, gemessen am Ideal der Rundumversorgung im Mutterleib. Die Credits für unser Elternbild gehen an: das körperliche Spüren des Embryos, das Fühlen des Kindes und das Denken der Jugend. Jede Lebensstufe hat im Horizont ihrer typischen Form der abhängigen Liebe und damit im Horizont ihres Bewusstseins dazu beigetragen. Ich behaupte: unser Eltern-Bild, unser Selbst-Bild und unser Welt-Bild sind kaum voneinander zu unterscheiden.

Die realen Personen hinter dem Bild unserer Eltern können wir solange nicht sehen, wie wir das Ideal von ihnen aufrecht erhalten, im „Guten“ wie im „Schlechten“. Uns selbst übrigens auch nicht, denn mit dem Ideal der Eltern ist immer ein ideales Selbst verbunden. Die Welt ebensowenig, jedenfalls nicht wie sie ist, denn am Eltern-Ideal bildet sich natürlich auch unser Ideal von der Welt heraus. Eines geht nicht ohne das andere. All diese Ideale sagen immer das Gleiche: „So wie es ist, ist es nicht gut. Weder die Eltern, noch du selbst, noch die Welt. Es müsste anders sein.“

 

Es ist nicht persönlich gemeint, …

Etwas anderes kommt hinzu: der weitaus größte Teil unseres Elternbildes beschreibt nichts Persönliches, obwohl wir es aus völlig subjektiven Erfahrungen gemacht haben. Das Bild von „Eltern“ besteht im Wesentlichen aus kollektiven Zuschreibungen. Das Material, welches die Struktur dieser kollektiven Zuschreibungen ausfüllt, stammt jeweils aus der subjektiven persönlichen Erfahrung. Die Struktur selbst jedoch teilen wir mit allen Westeuropäern, Nordamerikanern und sonstigen Mitgliedern offener Gesellschaften. Statische Gesellschaften haben ein strukturell anderes Elternbild, Naturvölker ein wiederum anderes.

Eines jedoch scheint überall auf dieser Welt gleich zu sein: Ein Kind hat nie eine Wahl in dem, wie es sich seinen Eltern und sich selbst gegenüber verhalten kann. Es glaubt aber unbewusst, es hätte eine.

So kann es seine tatsächliche Ohnmacht bannen, sich in abhängiger Liebe für die Stabilisierung seiner Umgebung (etwa der Eltern) mühen und dadurch sicherer aufwachsen. Aus dieser Dynamik entsteht sein magisches Weltbild. Das bedeutet: unser Elternbild ist bis zum Ende der Pubertät von magischen kindlichen Annahmen bestimmt. Für indigene, völlig in die Natur eingelassene Gesellschaften gilt dies uneingeschränkt über die ganze menschliche Lebensspanne. Für geschlossene, statische Gesellschaften ebenfalls, wenn auch in abgeschwächter Form und mit beginnenden krisenhaften Übergängen zur Auflösung des magischen Weltbildes etwa in Form einer wie auch immer gearteten Aufklärung, d.h. mit der Etablierung des kritischen Denkens als Hauptbezug zur jeweiligen Lebensrealität. Uns, im Zeitalter der sich totlaufenden Aufklärung, bleibt nichts anderes übrig, als das Magische und damit Unwirkliche in unseren kindlichen und jugendlichen Wünschen zu erkennen.

Im Unterschied zu Kindern haben erwachsene Menschen immer eine Wahl, wie sie sich ihren Eltern, sich selbst und der Welt gegenüber verhalten können. Sie glauben aber unbewusst, sie hätten keine.

Diesen Glauben nenne ich Neurose. „Neurose“ ist sozusagen die fortgeschrittene Variante des magischen Weltbildes der Kindheit. Hergestellt wird sie mit den Mitteln der Jugend. Die Kindheit selbst kennt keine Neurose. Die Kindheit kennt nur präzise und unausweichliche Anpassungsleistungen. Selbst wenn diese von außen wie neurotische Symptombildungen aussehen, etwa Schulangst, Einnässen, Konzentrationsschwierigkeiten, Gewaltausbrüche, Somatisierungen mit Hilfe von Krankheit usw.: es sind keine Neurosen. Kinder haben die Neurose noch nicht zur Verfügung.

Für Kinder sind ihre Symptome notwendige Anpassungsleistungen an ihr echtes, tatsächlich von den Eltern abhängiges Leben. Kindliche und jugendliche Symptombildungen sind Werke der abhängige Liebe. Sie sind immer angemessen und aus der Sicht des Kindes bzw. Jugendlichen alternativlos. Ausschließlich an den Kindern bzw. Jugendlichen therapeutisch zu arbeiten verstärkt daher oft ihre Not. Mir scheint es aussichtsreicher, sie in ihrer Anpassungsleistung zu würdigen und bei den Menschen anzusetzen, auf die sich ihre Symptome beziehen: bei den Eltern bzw. ihrer Familie. Entlastung finden Kinder und Jugendliche dann, wenn die zugehörigen Erwachsenen beginnen, auf sich selbst zu schauen.

 

… auch die Neurose nicht.

Zur Herstellung von Neurosen braucht man ein Werkzeug, das mächtig genug ist, um einen von der gegenwärtigen Wirklichkeit zu trennen. Dieses Werkzeug ist das Denken. Die Neurose nutzt das Denken als Mittel zum Schutz des abhängigen Kindes. Neurose versteht alles. Es mag in unserer wissenschaftsgläubigen Zeit seltsam klingen, aber: mit Hilfe des Verstehens und des Verstehen-Wollens baut die Neurose das denkbar haltbarste Bollwerk gegen die momentan relevanten Tatsachen des Lebens. Das Verstehen als solches ist die Lebensversicherung der Neurose. In diesem Sinne sind fast alle körperlich erwachsenen Menschen bestimmten Teilen ihrer Lebensrealität gegenüber neurotisch, also blind (ich selbst natürlich ebenfalls).

Fast alle Jugendlichen müssen viel Energie in die Herstellung ihrer Neurosen investieren, um ihr Eltern-Ideal, ihr Selbst-Ideal und ihr Welt-Ideal fortan ihrer konkreten Lebensrealität entgegenhalten zu können. So schützen sie ihr subjektiv als bedroht erlebtes inneres Kind und errichten darüber ein autonomes Ich. Das autonome Ich ist daher natürlicherweise von dem Phänomen „Neurose“ kaum zu unterscheiden. Wichtig finde ich dabei: „Neurose“ ist eigentlich keine Krankheit. Neurose ist eine unausweichliche Entwicklungsaufgabe. Ohne „Neurose“ könnten wir uns nicht von der Herkunftsfamilie lösen. Ohne sie gelingt es kaum, die Kindheit und damit die Eltern zu verabschieden und wirklich sein sein zu lassen. Ohne sie erscheint es fast umöglich, zu realisieren, dass man „draußen“ und wirklich „da“ ist. Die Neurose dient aus meiner Sicht dazu, den äußeren Geburtsprozess abzuschließen, indem sie die innere Geburt eines erwachsenen Menschen unausweichlich macht.

Die „Neurose“ von Erwachsenen wird angetrieben von den Überlebensimpulsen der vorvergangen Lebensstufe, also von der abhängigen Liebe des Kindes, und hergestellt in der vergangenen Lebensstufe, also im Denken der Jugend. Ich sage damit nichts gegen das Denken im Sinne nachträglicher Reflexion, etwa in Form des Nach-Denkens. Das kann wunderbar produktiv sein, wenn man es denken lässt. Ich zeige jedoch, dass das Denken im Sinne von „ich begegne meiner Lebensrealität mit Hilfe meiner Gedanken, also mittels meiner rationalen Modelle, Konzepte und Ideale“ mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zur Werkstatt von „Neurose“ wird. Denken angesichts des tatsächlich unmittelbar Vorhandenen hat die Tendenz zum Betrug: es lässt mich anstelle meiner unmittelbar vorhandenen Lebensrealität nur unbewusste Konzepte und Ideale erleben. Es trennt mich von der Gegenwart. Daher ist Denken das Lieblingsversteck aller Probleme.

Vieles von dem, was wir als Kinder mit unseren Eltern erlebt haben, bereitet uns beim nunmehr erwachsenen Umgang mit ihnen keinerlei Schwierigkeiten: Nahrung, Zuwendung, Aufmerksamkeit, Schutz, einfach alles was uns ermöglicht hat, überhaupt physisch erwachsen zu werden. Fakt ist: als Kind hatten wir einen Platz, an dem wir überleben konnten. Das ist das Wichtigste. Ohne diesen Platz wäre jetzt niemand da, der dies hier lesen und sich mit seiner Kindheit auseinandersetzen könnte. Erwachsenen Menschen, die mit ihrer Kindheit hadern, ist das häufig noch gar nicht aufgefallen. Mir ging es ebenso. Als man mir bewusst machen wollte, dass ich ja überlebt und also genug und vor allem das Richtige von meinen Eltern gehabt hätte, begann ich zu protestieren: Ja, aber mir fehlte dies, mich quälte das …

 

Der zeitliche Sicherheitsabstand und das Echo von damals.

Ich sehe heute: die Art und Weise, wie ein Kind seinen Platz damals in der Kindheit empfunden hat, ist etwas ganz Anderes als die Tatsache, dass es seinen damaligen Platz ja überlebt hat. Das subjektive Erleben des Kindes von damals hat sein eigenes Recht.

Das bedeutet: ein Kind liegt niemals falsch mit dem, was es empfindet oder wie es seine Situation erlebt. Es kann sein Dasein zeitweise oder dauernd als unsicher, belastend, nervig, einschränkend, bedrohlich, verletzend, quälend oder gar lähmend empfinden. Daran gibt es nichts zu bewerten. Es lässt sich auch nichts nachträglich ändern, etwa schöner machen, heilen oder was immer. Die Kindheit war, wie sie eben war. Punkt.

Mehr noch: ein Kind ist sein Empfinden, es ist sein Erleben. Es hat keine Distanz zu seinen Wahrnehmungen. Die Distanz zum eigenen Erleben beginnt sich erst im Vorfeld der Pubertät zu etablieren. Es stimmt also beides: Was du bekommen hast, war nährend und sicher genug, denn du bist ja noch da. Und: was du an Bedrohung und Schrecken erlebt hast, hast du genau so erlebt, und also war es ebenso wirklich und für dich als Kind eben bedrohlich und schrecklich.

Wenn ich als erwachsener Mensch nun beginne, tatsächlich alles, was ich als Kind mit meinen Eltern erlebt habe, zu mir gehören zu lassen, so wie es damals ganz subjektiv für mich war, ohne mir etwas anderes zu wünschen, komme ich unweigerlich in Kontakt mit der damaligen Ohnmacht des Kindes. Sie kann mich geradezu überfallen. Als Kind konnte ich weder etwas dagegen unternehmen noch etwas anderes wirklich wollen. Als Kind war ich bereit, alles dafür zu tun und alles mit mir geschehen zu lassen, was aus meiner Sicht nötig war, um weiter zu jenen Menschen gehören zu dürfen, die ich als meine Eltern vorgefunden hatte. Nichts konnte meine unbewusste Liebe zu ihnen auslöschen, denn an dieser Liebe hing mein Überleben, in dieser Liebe fand mein Überlebenstrieb die für ein Kind angemessene Gestalt. Genauer: ich war diese Liebe, ich war ihr Ausdruck und ihr Vollzug.

Zusammenfassend kann man sagen: Eltern sind aus Sicht ihrer Kinder immer sowohl die Quelle von Nahrung und Sicherheit und als auch die Quelle von Ohnmacht und Schmerz. Diese Mischung ist unvermeidlich und nicht persönlich gemeint. Sie kommt aus der tatsächlichen Abhängigkeit des Kindes und aus den darin entstehenden Gestalten der abhängigen Liebe. Das bedeutet z.B.: Heute lebende Erwachsene, die sich in der Erinnerung an ihr Kindsein nicht ausreichend geliebt fühlen, gibt es viele. Das Kind in ihnen, das sich damals nicht ausreichend geliebt fühlte, hatte damit Recht. Heute lebende Erwachsene, die als Kind tatsächlich nicht ausreichend geliebt wurden, gibt es nicht. Sie wären unweigerlich als Kind gestorben.

Was ich heute an meiner Kindheit zu bemängeln habe bzw. woran ich heute auf meine Kindheit bezogen leide ist nichts als ein Echo. Zwischen jetzt und damals liegen viele Jahre. Sie sind mein Sicherheitsabstand. Nur mit diesem Sicherheitsabstand, nur von heute aus, kann ich alles so lassen wie es war und es genau so zu mir gehören lassen. Dabei kommen die kindlichen Wünsche nach Hause. Was dann passieren kann, lesen Sie im vierten Teil.

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