– überlebt haben, ohne es zu spüren –
Vorbemerkung: Der konkrete Umgang mit Opfern von Straftaten oder politischer Willkür ist ausdrücklich nicht Gegenstand dieser kleinen Themenreihe. Es geht mir hier darum, das Opfersein als einen inneren Status mit seiner leiblich-seelischen bzw. systemischen Dynamik tiefer zu verstehen. Diese Dynamik scheint nach meinem Eindruck weite Bereiche unseres Lebensgefühls und unserer Lebensqualität zu beeinflussen.
Opfer sein, Teil I: der Überlebens-Status
Der Opfermodus ist eine Art innerer Überlebensraum. Er gestattet es uns, weiter zu existieren, nachdem wir bestimmte Erfahrungen als vernichtend erlebt haben. Diesen Überlebensraum kann man im Allgemeinen nicht verlassen, solange man in seiner Ohnmacht, in seinen Schmerzen und in seiner Überlebensleistung nicht wirklich gesehen wird, und sich selber nicht damit zeigt. So wird aus dem unmittelbar nach der vernichtenden Erfahrung eine Zeitlang notwendigen Opfermodus häufig der Opferstatus als eine Art Dauereinrichtung. Dieser Status ist hier Thema im engeren Sinne.
Der Opferstatus ist wie eine Gefängniszelle, deren Schlüssel innen steckt. Das Opfer ist sein eigener Gefängniswärter. Das Gefängnis des Opferstatus funktioniert wie eine Zeitmaschine: Innen ist Damals. „Innen“ umfasst also die Momente der damals vernichtenden Erfahrungen samt aller dabei wirksamen Überlebensmechanismen. Draußen ist Jetzt. Draußen umfasst den relativ sicheren gegenwärtigen Moment. Zwischen Jetzt und Damals liegt zeitlich gesehen meist eine große Entfernung, es ist lange her. Aber die Zeit kann Wunden nur dann heilen, wenn ihr Fluss wirklich wahrgenommen wird. Das ist im Inneren der Zelle unmöglich. Dort steht die Zeit still.
Der Status des Opfers hält einen Menschen von der eigenen Gegenwart und damit von seinem aktuellen Leben fern. Das fühlt sich zuweilen wie eine Glasglocke an, wie ein Nebel, ein schwarzes Loch oder ein Sack über dem Kopf. Die Heilung des Opfers beginnt mit dem Gesehenwerden – und mit dem Sich sehen Lassen. Es gibt jedoch einen Haken dabei: Sich Sehen Lassen und Gesehen Werden bedingen einander wie Henne und Ei.
Mir fallen drei Statusmerkmale des Opferdaseins auf. Das erste Statusmerkmal besteht darin, von seiner Umgebung übersehen zu werden. Die Umgebung kennt neben dem „unabsichtlichen Übersehen“ (dem blinden Fleck) und dem „absichtlichen Übersehen“ (der Ignoranz) zwei weitere Wege, um das Opfer nicht sehen zu müssen: Mitleid und Überhöhung. Beide Haltungen vermeiden den Kontakt mit den Erfahrungen des Opfers und mit seiner Überlebensleistung. Beide Haltungen erwachsen vermutlich aus der Angst vor dem Opfer und vor dem Echo im eigenen Inneren. Beide Haltungen zementieren den Opferstatus: Mitleid (Marginalisierung) verstärkt die Ohnmacht des Opfers, Ikonisierung (Überhöhung) legt es auf seine Schmerzen fest.
Das zweite Statusmerkmal ist ein blinder Fleck beim Opfer selbst: Das Opfer nimmt nicht wahr, dass es überlebt hat und dass die Bedrohung vorüber ist. Es hält sich weiterhin für bedroht. Die Wahrnehmung: „Ich habe überlebt, die Bedrohung ist vorüber“, würde den Opferstatus sofort sprengen, sozusagen die Gefängnistür pulverisieren. Wenn diese Wahrnehmung einmal durchdringt, wirkt sie tatsächlich oft wie eine Sprengung.
Das dritte Statusmerkmal des Opferdaseins besteht in der Neigung, sich zu verstecken. Das Opfer schämt sich seiner Ohnmacht und verbirgt seine Schmerzen. Es lebt im Bannkreis der vernichtenden Erfahrungen, welche damals die Opferreaktion in ihm ausgelöst hatten. Es verharrt nach wie vor im Überlebensmodus, sowohl was seine körperliche, emotionale und rationale Bereitschaft zu Kampf oder Flucht betrifft, als auch in seinem Bestreben, seine gefühlte Ohnmacht – also sein Opfersein – zu verbergen. Es macht sich unsichtbar hinter verschiedenen Masken: Kampfbereitschaft oder Harmoniesucht, Abhängigkeit oder Emanzipiertheit, Hilflosigkeit oder Souveränität.
Alle drei Statusmerkmale beruhen darauf, dass sowohl das Opfer als auch seine Umgebung nicht hinsehen bzw. die Wahrnehmung dessen, was ist, verweigern – und gleichzeitig sich nicht sehen lassen, also das Wahrgenommen Werden verhindern. Auf diese Weise stellen beide Seiten den Opferstatus stets aufs Neue her. Der Opferstatus mündet in – und lebt gleichzeitig – aus der gegenseitigen Verweigerung des Sehens und Gesehen Werdens. Daraus folgt für mich: Die Heilung des Opfers beginnt mit eben diesem elementaren Vorgang: Sehen und gesehen werden. Wenn sich das Opfer ohne Einschränkungen gesehen fühlt – und wenn es gleichzeitig seiner Umgebung gestattet, es ganz zu sehen – entdeckt es den Schlüssel an seinem Gefängnistor. Dann beginnt seine (Selbst-) Entlassung aus dem Opferstatus.
Damit „sehen und gesehen werden“ möglich werden, scheint es nützlich zu sein, dem Opfer einen Anker zur Gegenwart (außerhalb der Zelle) in seine stehen gebliebene Zeit (innerhalb der Zelle) hineinzureichen. Es liegt natürlich an ihm, ob es diesen Anker annimmt oder nicht. Es liegt an ihm, ob es – und sei es für wenige Minuten – sich in der Lage sieht, dem gegenwärtigen Moment und seiner relativen Sicherheit zu vertrauen. Natürlich hilft dabei die liebevolle, belastbare Beziehung zu einem Menschen, der im Jetzt lebt, der sich also außerhalb des Gefängnisses bewegt und sich nicht fürchtet, dem Gefängnistor nahezukommen. Manchmal sind dies eine Lebenspartnerin oder ein Freund, manchmal Therapeuten oder Berater. Ob die Person außerhalb des Gefängnisses für das Opfer vertrauenswürdig ist oder nicht, hängt wohl neben der liebevollen Zuwendung auch davon ab, ob sie in ihrer Erscheinung an eventuelle Auslöser früherer vernichtender Erfahrungen erinnert (Übertragung) und wie sie damit umgeht (Gegenübertragung).