– überlebt haben, ohne es zu spüren –
Vorbemerkung: Der konkrete Umgang mit Opfern von Straftaten oder politischer Willkür ist ausdrücklich nicht Gegenstand dieser kleinen Themenreihe. Es geht mir hier darum, das Opfersein als einen inneren Status mit seiner leiblich-seelischen bzw. systemischen Dynamik tiefer zu verstehen. Diese Dynamik scheint nach meinem Eindruck weite Bereiche unseres Lebensgefühls und unserer Lebensqualität zu beeinflussen.
Opfer sein, Teil III: die Wirkung der Gegenwart
Opfer sein bedeutet: „Ich bin ohnmächtig, ich kann nichts tun.“ Demzufolge bin ich handlungsunfähig, und daher unschuldig. Bei der Aufstellungsarbeit mit den Lebensstufen (Zeit im Mutterlieb, Kindheit, Jugend und Erwachsensein) stieß ich auf eine erstaunliche Parallele: Das kindliche Erleben, wie es sich im Lebens-Integrations-Prozess nach Wilfried Nelles zeigt, entspricht ziemlich genau der inneren Dynamik des Opferstatus. Im Folgenden beleuchte ich daher den Opferstatus von der Kindheit als Lebens- und Bewusstseinsstufe her.
Kinder sind, auch wenn es im Einzelfall Ausnahmen und Abstufungen gibt, prinzipiell nicht selbstmächtig (weil von den Eltern zutiefst abhängig), nicht selbstverantwortlich (also handlungsfähig) und daher prinzipiell unschuldig. Jedes Kind erlebt irgendwann existentielle Ohnmacht, Schmerzen und Grenzüberschreitungen, nicht selten von seinen Eltern selbst. Es passiert einfach, häufig ohne besonderen Vorsatz. Ein Kind kann mit diesen Erfahrungen nur umgehen und dabei in der Familie bleiben, indem es etwas Merkwürdiges tut: Es nimmt die Schuld auf sich. Damit aktiviert es innere Mechanismen, die ihm erlauben, seine Ohnmacht nicht wahrzunehmen und den Schmerz nicht zu fühlen. Objektiv ist es immer unschuldig, subjektiv fühlt es Schuld. Der Grund für all das: Es ist ganz in seiner kindlichen Loyalität verhaftet, in einer unbewussten Liebe zu den Eltern und zu seiner Familie. Es folgt ihr bis zur Selbstaufgabe. Es hat den Fixpunkt seines Daseins – sein Selbst – noch bei den Eltern.
Die beschriebenen Mechanismen sind kindliche Überlebensleistungen und –Muster, die damals erfolgreich waren. Wenn sie nicht wirklich gesehen werden, können sie wie ein Grundton im Körper und in dessen Spiegel, der Seele, zurückbleiben. Sie wirken ohne Unterlass, etwa als ein häufiges Alarmiertsein, als Übererregbarkeit, als ständige Bereitschaft zu Kampf, Flucht oder Lähmung. Diese Überlebensmuster entspannen sich erst, wenn das Kind, das man damals war, ohne Ausweichmanöver (Mitleid / Ikonisierung) angeschaut, wahrgenommen und gesehen wird. Vom Herzen her. Das wiederum kann prinzipiell nur ein innerlich erwachsener Mensch. Der Erwachsene ist im Jetzt verankert. Das hebt alle früher notwendigenAbhängigkeiten auf. Diese Verankerung oder anders gesagt: der offene Kontakt zum gegenwärtigen Moment, markiert das konstituierende Statusmerkmal des Erwachsenen und gleichzeitig das Ende des Opferdaseins.
Daraus ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Eine davon: mit seiner Verankerung im Jetzt wird es dem Erwachsenen erstmals möglich, nicht in die Schmerzen von damals hineinzufallen, wenn eine Lebenssituation sein eigenes inneres Kind sozusagen im Opfermodus auf den Plan ruft. Er bleibt in seiner konkreten Gegenwart handlungsfähig, im Gegensatz zu dem Kind, das er damals war. Er fällt auch nicht in das Damals, wenn er einem Menschen im Opferstatus nahekommt, denn er kann sehen, was bei seinem Gegenüber los ist – und dass er selbst überlebt hat.
In der Aufstellungsarbeit, insbesondere im Lebens-Integrations-Prozess, inszenieren wir das „Sehen und Gesehen Werden“ des Opfers, seiner Überlebensleistung und der dabei gewonnenen Fähigkeiten. Wir tun dies strikt vom inneren Status des Erwachsenen her, vom Jetzt aus. Dabei bekommt man es als Begleiter dieses Prozesses wiederum mit der Dynamik von Henne und Ei zu tun. Menschen im inneren Status eines Kindes sind per se ebenso handlungsunfähig wie Menschen im Opferstatus. Beide, der kindliche und der Opfer-Status, entsprechen einander. Möglicherweise sind sie in ihren Grunddynamiken identisch. Analog dazu entsprechen einander der Nicht-mehr-Opfer-Status und das innere Erwachsensein. Ihnen liegt als entscheidende Dynamik der offene Kontakt zur Gegenwart zugrunde, zum relativ sicheren Jetzt.
Eine weitere Konsequenz ist: Die Arbeit mit dem „inneren Kind“ (als Repräsentanz des damaligen kindlichen Selbst) beschäftigt sich im Grunde mit dem eigenen Opferstatus. Es hat also wenig Sinn, das innere Kind besonders zu umsorgen oder ihm gar einen besonderen Platz zu geben. Mitleid und Ikonisierung sind die beiden Seiten derselben Medaille, und die heißt: „ich will dich nicht wirklich so sehen, wie du bist.“ Das Nicht Hinsehen versorgt den eigenen Opferstatus mit zusätzlicher Energie und macht ihn haltbarer. Genauso wenig zielführend wäre es, dem inneren Kind autoritär oder ignorant zu begegnen, so wie es während der Kindheit vielleicht die eigenen Eltern getan haben. Dies würde wiederholen, wie dem Opfer von außen her das Gesehen Werden verweigert wird, etwa so: „Reiß dich zusammen!“ bzw. „So schlimm war’s doch gar nicht.“ Wieder die beiden Seiten ein- und derselben Medaille.
Das innere Kind entspannt sich, wenn es ganz gesehen wird, und man den Kontakt mit seinem damaligen Schmerz wirklich zulässt. Analog der Opferstatus: er entspannt sich, wenn er ganz gesehen wird und den Kontakt zum damaligen Schmerz zulässt. Dieser Kontakt, dieses elementare Mitfühlen, wird aber erst von der relativ sicheren Gegenwart her überhaupt möglich.
Für die Aufstellungs- und Beratungsarbeit bedeutet dies: Die Verbindung zum Jetzt ist der Dreh- und Angelpunkt aller Bemühungen. Die Verbindung zum Jetzt bringt unweigerlich die Auflösung des Opferstatus mit sich. Sie unterbricht die Dynamik von Henne und Ei. Das Jetzt sorgt für Sehen und Gesehen Werden. Das Jetzt öffnet die Gefängnistür, manchmal sprengt es sie einfach. Sie bewegt sich schon ein wenig, wenn ein Mensch sich nur für einen Moment in der Gegenwart, in seinem tatsächlichen Alter, im Hier und Jetzt, verankern und halten lässt.
Im Bilde gesprochen: Wenn ein Mensch beginnt, sich auf den Anker zur Gegenwart zu verlassen, den man ihm durchs Gitter gereicht hat, wird das Gefängnis des Opferstatus brüchig. Die Zeit im Innern seiner Zelle kann erstmals zu fließen beginnen. Es beginnt meist eine Art offener Vollzug, und das ist völlig in Ordnung. Davon, wie schmal- oder breitbandig die Verankerung in der Gegenwart gelingt, hängt ab, wie tropfen- oder brockenweise der Kontakt mit den damals als vernichtend erlebten Erfahrungen bemessen sein darf. Um den Opferstatus endgültig verlassen zu können, braucht man das Erlebnis, dass die vernichtenden Erfahrungen von damals im Jetzt nicht mehr bedrohlich sind, weil vorbei und überstanden. Dazu ist ein dosierter Kontakt zu ihnen aus dem sicheren Jetzt heraus nötig. Wenn man fühlen, körperlich fühlen kann, dass man tatsächlich überlebt hat, wird aus dem offenen Vollzug ein Leben in Freiheit.