Opferstatus II: Lähmung

Blog, Lebensintegration

– überlebt haben, ohne es zu spüren –

Vorbemerkung: Der konkrete Umgang mit Opfern von Straftaten oder politischer Willkür ist ausdrücklich nicht Gegenstand dieser kleinen Themenreihe. Es geht mir hier darum, das Opfersein als einen inneren Status mit seiner leiblich-seelischen bzw. systemischen Dynamik tiefer zu verstehen. Diese Dynamik scheint nach meinem Eindruck weite Bereiche unseres Lebensgefühls und unserer Lebensqualität zu beeinflussen.

 

Opfer sein Teil II: Lähmung als Lebensretter

Der Opfermodus, die Vorstufe des Opferstatus, gehört zu einem fix und fertig vorbereiteten Notprogramm, das im Falle von Lebensgefahr unsere Überlebenschancen drastisch erhöht. Der Opfermodus schaltet sich automatisch ein, wenn angesichts einer existentiellen Bedrohung unsere beiden Grundreflexe – Kampf oder Flucht – nicht möglich sind. (Ich stütze mich hier auf das, was Peter A. Levine bei seiner Arbeit mit Traumata entdeckt hat. Seine Anschauungen verzahnen sich mit dem, was mich die Aufstellungsarbeit lehrt.) Der Kampfimpuls kommt aus dem entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil unseres Gehirnes, dem „Reptilienhirn“. Es ist für das Überleben zuständig. Der Kampfimpuls enthält die gleiche Aggression wie die von außen erscheinende Bedrohung, oft einen Tötungsimpuls. Er sagt schlicht: „Du oder ich!“ Wenn ein Kampf aussichtslos erscheint, wendet sich der Impuls mit der gleichen Kraft, Aggression oder Tötungsenergie in die entgegengesetzte Richtung. Man flieht. Der Fluchtimpuls ist also ein „seitenverkehrter“ Kampfimpuls. Er heißt ebenfalls: „Du oder ich!“, nur dass es hier nicht um Besiegen, sondern um Entkommen geht.

Wenn beides nicht gelingt, sorgt die ansteigende Panik für den letzten Überlebensmodus, den unser Reptiliengehirn für uns bereithält: Die Lähmung bzw. Ohnmacht. „Du nicht, weil ich nicht!“ Die tötungsbereite Aggression kann nicht in Kampf oder Flucht münden. Mit Hilfe der Panik jedoch findet sie einen Weg – nach innen. Sie kollabiert, analog zum Totstellreflex bei Säugetieren. Dieser Kollaps wirkt lebensrettend, indem er unmittelbare Ohnmacht herstellt. Er lässt praktisch die komplette Wahrnehmung der lebensbedrohlichen Situation mit sich verschwinden. Das betrifft die innere und die äußere Wahrnehmung (Sinneseindrücke), die Emotionen sowie alle Gedanken, die damit zu tun haben.

Dieser Lähmungsmechanismus friert sehr genau jene Segmente des Daseins ein, welche von einem vernichtenden Bedrohungserlebnis betroffen sind. Er reagiert dabei nicht auf bloße Tatsachen, sondern auf die subjektive Erfahrung dieser Tatsachen. Was genau an körperlichen Empfindungen, Emotionen und Gedanken, also auch an Erinnerungen, kollabiert und von dem Lähmungsmechanismus in die innere Kühltruhe geschickt wird, hängt also nicht zuletzt davon ab, auf welcher Lebensstufe (Embryo, Kind, Jugendliche, Erwachsene) und wie häufig bzw. in welcher Intensität wir dem Erlebnis der Bedrohung rausgesetzt waren. In schweren Fällen kann auch das Dasein als Ganzes betroffen sein. Kristallisationskern dieses inneren Blocks ist die vom puren Überlebensauftrag des Reptilienhirns mobilisierte tötungsbereite Aggression. In der Ohnmacht des Opfers enthalten wir also noch immer jenen Tötungsimpuls, welcher sich damals nicht in Kampf oder Flucht entladen konnte.

Die Dynamik, die uns zum Opfer macht, sorgt gleichzeitig dafür, dass wir trotz eigentlich unerträglicher Erfahrungen weiterleben können, indem wir das Geschehen per Kollaps in unserem unbewussten Körpergedächtnis bzw. in unserer Seele versenken. Diese Dynamik hat einen Preis: Die fast völlige Abschaltung der Wahrnehmung kann verhindern, dass man das Ende der Bedrohung wirklich registriert und dann die überschüssige Überlebensenergie abfließen lässt. Sollte diese Abflussbewegung jedoch gelingen (und sie gelingt erstaunlich oft, wie die Resilienzforschung zeigt), kann man den Opfermodus verlassen und in den entspannten Alltagsmodus zurückkehren. Wenn sie nicht gelingt, wenn man nicht realisieren kann, dass man überlebt hat, wird aus dem Opfermodus der hier besprochene Opferstatus.

Wenn wir uns im Opferstatus befinden, kommen wir unwillkürlich in Kontakt mit dem nach wie vor tötungsbereiten Kampf- oder Fluchtimpuls von damals, sobald man unseren Opferstatus in Frage stellt oder anderweitig berührt. Der ursprüngliche Überlebensimpuls ist, bildlich gesprochen, in uns eingesperrt wie ein „Geist in der Flasche“. Wenn man diesem „Geist“ nahekommt, reagieren wir wie ein weidwundes Tier; sobald man ihn freilässt, will er morden (wie in dem entsprechenden Märchen).

Vielleicht haben deshalb viele Menschen Angst vor dem Opfer, wagen nicht, es anzusehen und verfallen in Ikonisierung bzw. Mitleid. Zum einfachen Hinsehen braucht man Mut und vielleicht ein wenig Erfahrung im Umgang mit dem Schlüssel am eigenen Gefängnistor. Menschen im Opferstatus kann man nur dann sinnvoll therapeutisch oder beraterisch begleiten, wenn es gelingt ihnen klarzumachen, dass man nicht ihr Feind ist – und dass die Bedrohung vorüber ist. Im Bilde gesprochen: Wenn sie den Anker zur Gegenwart aufnehmen, den man ihnen durch das Gitter zugeworfen hat. Wenn nicht, geht nichts, außer Geduld und die Anerkennung dessen, was gerade ist. Man bleibt einfach in Liebe da, ohne einzugreifen und ohne sich innerlich abzuwenden. Aus meiner Sicht ist dies der Kern eines jeden therapeutischen, beraterischen oder seelsorgerlichen Arbeitsbündnisses, also auch der Kern der Aufstellungsarbeit.

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