Essay, zuerst veröffentlicht in „Trauma und Bewegung“, Jahrbuch der DGfS, Göttingen, Vandenhoeck & Ruprecht, 2017. – Teil 3 –
Trauma und Spiritualität
Wir haben bisher gesehen, wie Trauma körperlich funktioniert, welche konstituierende Rolle die Illusion dabei spielt und wie die Seele selbst uns mittels unseres Bewusstseins („ich bin“) traumatisiert. Das Trauma kommt aus der menschlichen Seele, und von der Seele her kann es auch heilen. Schauen wir daher auf das Phänomen „Spiritualität“ als allgemeine Chiffre für den Zugang zum Seelischen, zur Innenseite unserer Lebendigkeit.
Spiritualität ist zunächst etwas ganz Privates im Sinne von: „Dieses Lebendige ist meines, es betrifft nur mich selbst und geht nur mich etwas an.“ Insofern wird Spiritualität als etwas zutiefst Persönliches erlebt. Der innere Kontakt zur eigenen Lebendigkeit öffnet sich durch das Persönliche hindurch, über die eigene Geschichte.
Nun sind andere Wesen ebenfalls lebendig. Das Lebendigsein ist in allen gleich, eben lebendig. Das verbindet uns miteinander, ob wir das wollen oder nicht und ob es uns bewusst wird oder nicht. So kommen wir über die eigene Lebendigkeit in Verbindung mit allen, die ebenfalls am Leben sind. Insofern ist Spiritualität kollektiv und öffentlich. Diese andere Seite von Spiritualität geht über das Private hinaus. Sie wird als etwas Überpersönliches erlebt, als Verbindung mit dem großen Ganzen.
Viele nennen die Erfahrung gerade dieser überpersönlichen Verbindung die „spirituelle Dimension“. Ich kenne kein allgemeingültiges Wort dafür, nur sprachliche Zeiger wie: Großes Geheimnis, Geist, Jahwe, Gott, Allah, Tao. Die Reihe ließe sich fortsetzen. Im Alltag bezeichnen diese Wörter mehr die aus der jeweiligen Kultur erwachsenen religiösen Gruppenzugehörigkeiten, weniger die Sache selbst. Lebendigkeit ist keine „Sache“, über die sich direkt sprechen ließe. Sie ist vielmehr schon im Sprechen selbst als dessen innere Bewegung enthalten.
Die Frage ist nun: Kann Spiritualität im weitesten Sinne dabei helfen, Trauma zu transformieren? Oder andersherum: Kann Trauma in einen tieferen Kontakt mit der eigenen Lebendigkeit führen, also in eine vertiefte oder erneuerte Spiritualität?
„Spiritualität“ als großräumige Bezeichnung für die Beschäftigung mit dem eigenen Innern oder mit dem wie auch immer vorgestellten geistigen Aspekt des Daseins ist ein Modewort unserer Zeit geworden, eine kulturelle Szene offener Gesellschaften, in manchen Aspekten sogar eine (Unterhaltungs-)Industrie. Wenn wir Trauma als die Bemühung begreifen, aus Gründen besserer Überlebenschancen den Kontakt zur unmittelbaren Gegenwart zu vermeiden (angesichts innerer Bilder des so überwältigend-vernichtenden Kontakts zur damaligen Gegenwart), dann wäre Spiritualität in diesem Sinne nichts anderes als ein Traumasymptom.
Spiritualität als bloße Innerlichkeit funktioniert nach denselben Regeln wie die Illusion: Ich bin mit meinem Geist und meiner Wahrnehmung nicht dort, wo ich mich gerade befinde, sondern eben woanders. Die geistige Entfernung aus der unmittelbaren Gegenwart ist, wie wir gesehen haben, selber Teil des Traumas, eben eine Symptombildung im Sinne unseres Überlebenstriebes. Insofern dient jede spirituelle Praxis, die Menschen aus der unmittelbaren Wahrnehmung ihrer Gegenwart herausführt, dem Trauma selbst, indem sie es konserviert, fortführt und immer wieder neu belebt.
Spiritualität im Sinne einer Flucht aus der Gegenwart wird tatsächlich, um ein altes Diktum von Karl Marx zu benutzen, zum „Opium des Volkes“, also zu einer Art Betäubungs- oder Schmerzmittel. Ich habe nichts gegen Schmerzmittel. Sie helfen uns, Unerträgliches zu überstehen. Sie tun dabei dasselbe wie Trauma: betäuben um des Überlebens willen. Wer schwere Schmerzen kennt, weiß das zu schätzen, gleichgültig, ob es sich dabei um somatische oder um psychische Schmerzen handelt. Nur: Kein Schmerzmittel erreicht den inneren Auftraggeber des Traumas bzw. seines Symptoms Schmerz. Schmerzmittel können nicht heilen. Heilen kann nur die Wirklichkeit selbst, also der gegenwärtige Moment. Daraus folgt für mich: in der Spiritualität geht es nicht darum, was man tut, sei es in der Meditation, im religiösen Ritus, im Gebet oder wobei auch immer. Es geht darum, wohin man sich dabei innerlich ausrichtet, wofür man sich öffnet.
Jeder unmittelbare Kontakt zum gegenwärtigen Moment ist spirituell, denn er ist immer mit dem Kontakt zur eigenen Lebendigkeit verbunden. Vielleicht treffen sich hier die biblische Formulierung: „Seid im Gebet ohne Unterlass“, mit dem östlichen „jede-Minute-Zen“. Ich sehe, dass die mir bekannten Religionen und spirituellen Schulen sich in der Tiefe an ein und demselben Ort begegnen: in der Ermutigung, sich dem gegenwärtigen Moment zu öffnen, sich dem eigenen So-Sein und damit dem Leben selbst zu überlassen – eben nicht zu fliehen, sondern bei sich zu bleiben und der inneren Lebendigkeit zu vertrauen, ja sich ihr hinzugeben. In diesem Sinne, also in einem alltäglichen Gegenwärtigsein („Wasser holen, Holz machen“) kann Spiritualität bei der Heilung von Trauma eine große Kraft entfalten. In diesem Sinne kann sie die mit dem Trauma verbundenen, das Trauma erzeugenden und erhaltenden Illusionen sichtbar machen, als solche würdigen und dann gut sein lassen, um sich der momentanen Gegenwart zuzuwenden. Und in diesem Sinne hat Aufstellungsarbeit natürlicherweise einen spirituellen Kern, einen Nukleus aus gegenwärtiger Spiritualität, eine Mitte aus Kontakt zur Lebendigkeit.
Aufstellungsarbeit kann, wenn sie sich dieser unverfügbaren Mitte anvertraut, angewandte Spiritualität sein, gegenwärtig und alltäglich wie „Wasser holen und Holz machen“. So kann sie unterstützen, was die Seele offenbar will: die im Trauma verborgenen Überlebensleistungen samt der dabei entwickelten Ressourcen sichtbar werden lassen und dem Leben neu zur Verfügung stellen. Es geht darum, das Trauma selbst immer tiefer als Illusion zu erkennen und die unbedrohte Gegenwart als Wirklichkeit wahrzunehmen.
Literatur
Geßner, Th. (2018). Wie wir lieben. Und was wir alles aus Liebe tun oder vermeiden. Köln, Innenweltverlag, Edition Neue Psychologie.
Giegerich, W. (1992). Tötungen. Gewalt aus der Seele. In P. M. Pflüger (Hrsg.), Gewalt – warum? Der Mensch: Zerstörer und Gestalter (S. 184–234). Olten u. Freiburg i. Br.: Walter.
Giegerich, W. (2010). The Soul Always Thinks. The Collected English Papers of Wolfgang Giegerich. Bd. IV. New Orleans: Spring Journal.
Giegerich, W. (2013). Neurosis. The Logic of a Metaphysical Illness. New Orleans: Spring Journal.
Hölderlin, F. (1993). Exzentrische Bahnen. München: dtv.
Levine, P. A. (2012). Sprache ohne Worte. Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt (4. Aufl.). München: Kösel.
Nelles, W. (2010). Das Leben hat keinen Rückwärtsgang. Die Evolution des Bewusstseins, spirituelles Wachstum und das Familienstellen (2. Aufl.). Köln: Innenwelt.
Nelles, W. (2016). Alles ist Bewusstsein ist alles. Zur Psychologie der Gegenwart. Essays, Gespräche, Aphorismen. Köln: Innenwelt
Nelles, W., Geßner, Th. (2014). Die Sehnsucht des Lebens nach sich selbst. Der Lebens-Integrations-Prozess in der Praxis. Köln: Innenwelt.
Vielen Dank für diesen Beitrag! Mir gefällt die „Nüchternheit“, die daraus spricht: das bewusste Verankert-Sein im Hier und Jetzt, anstatt sich irgendwo hin zu träumen. Auch spricht für mich eine große Weite aus dem Text, eine tiefe Verbundenheit zur spirituellen Arbeit in verschiedenen Zeiten und Kulturen. Das hat mich berührt.
Vielen Dank, das freut mich sehr.