„Spiritualität“ im weitesten Sinne entsteht nach meinem Eindruck ganz von allein, wenn man innerlich Kontakt zur eigenen Lebendigkeit findet. Dabei begegnet man sich in einer Bodenlosigkeit, die jenseits jeder Form wie „Person“ oder „Ich“ lebt. „Bewusstsein“ hingegen scheint die Art und Weise zu sein, in der wir uns, die anderen und die Welt im gegenwärtigen Moment wahrnehmen oder erleben.
Die beiden Phänomene „Spiritualität“ und „Bewusstsein“ begegnen sich an einem inneren Ort, den ich nicht genau bezeichnen kann. In Ermangelung von etwas Besserem nenne ich ihn „Selbst“. Bewusstsein und Spiritualität entwickeln sich gegenseitig, eines ergibt sich aus dem anderen. Jede Bewusstseinsstufe bringt eine für sie typische Form von Spiritualität hervor, wobei die Spiritualität selbst wie ein innerer Motor dieser Entwicklung erscheint.
Im Folgenden beziehe ich mich auf die Bewusstseinsstufen, wie sie Wilfried Nelles in seinem Modell von der Evolution des Bewusstseins eingeführt hat.
Spiritualität und Selbst-Bewusstsein
Dem Äußeren nach sind wir alle erwachsen. Innerlich erwachsene Spiritualität ist dem modernen Bewusstsein jedoch fremd und unverständlich, denn sie hat mit Tatsachen zu tun. Erwachsene Spiritualität lässt sich auf die gegenwärtigen Tatsachen des eigenen Lebens ein, ohne daran etwas verändern zu wollen. Wenn Veränderung geschieht, dann kommt sie aus der Bewegung des Lebens selbst, nicht aus unseren Plänen damit.
Solche Spiritualität liefert sich dem Leben aus, so wie es sich gerade vollzieht, mit allem, was es gerade verlangt und gibt. Sie findet in der Zustimmung zu diesen Tatsachen die eigene Lebendigkeit, ihr „Beseeltes“, oder anders gesprochen: das bodenlose Selbst. Erwachsene Spiritualität lebt in der Ergebung, in der Hingabe. Jedoch: „Hingabe kann man nicht machen.“ (Nelles). Sie geschieht einem, wenn man sich dafür öffnet.
Sie erscheint, wenn das suchende und kämpfende Ich-Bewusstsein obsolet geworden ist und unterzugehen beginnt. Dabei stirbt innerlich die der Jugend (und ihrer kollektiven Seite, der Moderne) zugehörige und für sie richtige Art und Weise des Erlebens. Mit ihr zerbricht das gewohnte und bisher zum Überleben notwendige Bild von uns, von den anderen und der Welt. Daraus folgt: erwachsene Spiritualität ist das Ergebnis eines Todes.
Dieser innere Sterbevorgang geht mit ganz realer Todesangst einher, mit allem, was wir an Verleugnung, Wut, Verhandeln, Trauer und schließlich der Annahme des Verlustes vom physischen Sterbeprozess her kennen. Im Nachgang stellt sich der innere Tod als eine Geburt heraus, aber das weiß man vorher nicht, und es fühlt sich währenddessen auch nicht so an. Niemand kann sich den inneren Sterbeprozess aussuchen. Man weiß nicht, wann er beginnt, und man weiß mittendrin erst recht nicht, wo er hinführen wird. Ein prominenter zeitgenössischer Ausdruck dafür ist „Krise“, ein in der christlichen Mystik gebräuchlicher die „Nacht der Seele“.
Innen
Schauen wir weiter: erwachsene Spiritualität ist innen und kommt von innen. Sie braucht nichts von außerhalb zu ihrer Existenz. Ich bin einfach mit mir selbst, als ein mitfühlender Zeuge des eigenen Lebens. Ich nehme wahr, was mein Körper spürt und tut, aber ich bin nicht mein Körper. Ich nehme wahr, was meine Gefühle fühlen und tun, aber ich bin nicht meine Gefühle. Ich nehme wahr, was meine Gedanken denken und wollen, welche Bilder und Muster sie erschaffen und wie sie funktionieren, aber ich bin nicht meine Gedanken. Ich lasse sie kommen und gehen, ohne ihnen zu folgen, etwa indem ich sie analysiere. Ich lasse es (das Denken) denken, aber ich (meine Person) denke nicht. Ich bin der Raum, in dem das alles geschieht, oder anders gesagt, die Instanz, die das alles wahrnimmt.
Zu Beginn habe ich diese Instanz „die eigene Lebendigkeit“ genannt. Sie hat keinen Boden, keine Begrenzung, denn sie ist nicht Ich. Sie hat und ist nicht die Form meiner Person, sondern sie ist ihr formloser Ursprung. Der Kontakt zu einer solchen inneren Bodenlosigkeit sorgt im Normalfall für bodenloses Entsetzen, Schwindel und Verwirrung. Der „Schauer des Numinosen“ hat hier seinen Ort, dabei ist dieser Begriff nur eine Verniedlichung dessen, womit wir da in Kontakt kommen. Die andere Seite des Bodenlosen ist Freiheit. Diese Freiheit hat mit „Autonomie“ nichts zu tun, denn sie bezieht sich nicht auf etwas, von dem sie sich abgrenzen oder emanzipieren müsste und dadurch daran gebunden bleibt. Diese Freiheit ist so bodenlos wie die eigene Lebendigkeit und daher ungeheuer. Die mit ihr verbundene Freude ebenfalls. Im Kontakt mit der inneren Lebendigkeit können wir uns also gefasst machen auf: bodenloses Entsetzen und grundlose, an nichts gebundene Freude. Die Bibel nennt diese Freude gern „Seligkeit“.
Indem ich beginne, mein körperliches Spüren, mein Fühlen und mein Denken wahrzunehmen, ohne es weiterhin mit mir selbst zu verwechseln, bekomme ich allmählich ein Bewusstsein von mir selbst. Und zwar erst dann. Die Verwechslung meiner selbst mit dem, der da drinnen „Ich“ sagt, löst sich auf. Das Selbst-Bewusstsein wird geboren. Es ist vielleicht noch klein und manchmal instabil, aber es ist da. Selbst-Bewusstsein heißt nichts weiter, als dass das Lebendige in mir wahrnehmen darf, wie ich im gegenwärtigen Moment gerade denke, wie ich fühle und wie ich körperlich da bin. Vorher konnte ich mich nicht wirklich wahrnehmen, denn ich hatte mich verwechselt mit dem, was ich dachte, fühlte und körperlich spürte.
Indem ich mich im gegenwärtigen Moment wahrnehme und so mit mir verbunden bin, beginne ich unwillkürlich auch die anderen und die Welt wahrzunehmen, und zwar anders als bisher. Meine Vorstellungen über sie, die ich im Ich-Bewusstsein entwickelt hatte, meine Abhängigkeiten aus dem Gruppenbewusstsein und die Verschmelzungen aus dem Symbiotischen Einheitsbewusstsein wirken nicht mehr als Filter, Verzerrer oder Absorber dessen, was oder wer da erscheint. Es erscheint einfach, was ist.
Außen
Nun geschehen mehrere Dinge: es ist, als würde ein Vorhang weggezogen, ein undeutlicher Schleier, und es wird hell. Dann erscheint, dass in allen dieselbe Lebendigkeit wohnt, dass alle mit ähnlichen Schmerzen und Sehnsüchten zu tun haben, und dass es keine Trennung gibt. Die Verbundenheit mit Allem, die man als jüngerer Mensch so verzweifelt gesucht und sie dabei unbewusst so konsequent vermieden hatte, stellt sich von selbst ein. Sie wirkt ganz natürlich. Und es tritt etwas in den Hintergrund: das Persönliche.
Ich nehme es nicht mehr so persönlich, was in mir vorgeht, wie andere mir begegnen und wie die Welt mir vorkommt. Das alles geschieht ohne Anstrengung, wie von selbst. Man kann es nicht machen, man kann ihm nur innerlich Raum geben. Die unpersönliche, nicht mehr auf eine bestimmte Person bezogene, Wahrnehmung ist ein eigentümliches, mit nichts vergleichbares Phänomen. Offenbar entsteht diese Art der Wahrnehmung unmittelbar mit der Geburt des Selbst-Bewusstseins (und andersherum): je mehr sich mein Erleben der Welt und meiner selbst sich vom Äußeren weg- und dem Inneren zuwendet, je unpersönlicher wird meine Wahrnehmung. Mit dem „Äußeren“ bezeichne ich alles, was auf die Umgebung bezogen ist, sei es eine auf die Umgebung bezogene Körperwahrnehmung, ein auf die Umgebung bezogenes Fühlen oder mein die Umgebung widerspiegelndes Denken.
„Unpersönlich“ wird in der Alltagssprache oft mit „kühl“ oder „abweisend“ verbunden. Das Gegenteil ist hier der Fall. „Unpersönlich“ heißt einfach nur, dass ich das, was passiert, nicht mehr auf mich als Person beziehe, sondern dort lasse, wo es passiert. Die Unterscheidung zwischen dem, was mich betrifft, und dem, was nicht, wird müheloser, natürlicher. Das ständige Reagieren meinerseits lässt nach. Ich sehe, wie das Allermeiste, was in mir und in anderen vorgeht, nichts mit unserer Individualität zu tun hat. Es ist einfach nichts Persönliches, sondern spiegelt etwas kollektives, allgemein Menschliches wider. Spiritualität im Selbst-Bewusstsein folgt dieser Entlastung des Persönlichen und ermöglicht sie gleichzeitig.
Spiritualität und Ich-Bewusstsein
Schauen wir in das moderne Bewusstsein. Das jugendliche Ich-Bewusstsein unserer Zeit will mit den Tatsachen des Lebens nichts zu tun haben. Es sucht statt dessen nach einem – möglicherweise spirituellen – Ausweg aus ihnen. Es findet diesen Ausweg in seinen Konzepten und Vorstellungen über das Leben: über sich selbst, über die anderen und über die Welt. Menschen und Gesellschaften im Ich-Bewusstsein finden ihre Lebendigkeit, ihr „Beseeltes“, in dem, was sie denken. Sie leben buchstäblich in ihren Gedanken über sich, die Anderen und die Welt (und nicht etwa mit sich, mit den Anderen und mit der Welt).
Das ist so unausweichlich und notwendig wie jede Adoleszenz, es führt jedoch zu kuriosen Missverständnissen in Sachen Spiritualität.
Das erste Missverständnis behauptet, man könne sich seine Spiritualität selbst zusammenstellen: man nehme ein wenig Christentum, füge etwas Zen-Buddhismus oder auch Hinduismus hinzu und würze das Ganze mit eine guten Prise schamanischer Praxis beliebiger Herkunft, ob nun mexikanisch, sibirisch, keltisch oder altgermanisch. Schon fühlt man sich als spiritueller Mensch und wird sogar als ein solcher wahrgenommen und geschätzt. Dass man strukturell durch und durch Christ ist, völlig unabhängig von jeder Kirchlichkeit, wenn man nur in einer europäischen Familie geboren wurde, fällt dabei nicht auf.
Ein weiteres Missverständnis besteht darin, dass man sich mit seiner spirituellen Praxis nur genügend Mühe geben müsse, etwa beim Meditieren oder beim Tai Chi im Park, dann werde sich so etwas wie Lebendigkeit und innerer Frieden schon einstellen, möglicherweise als Vorboten der zu erwartenden Erleuchtung.
Das schönste Missverständnis überhaupt kommt aus der Idee, Spiritualität habe ein Ziel, etwa inneren Frieden, erfüllte Partnerschaften oder Freude an der Arbeit. Die Vorstellung, dass etwas ein Ziel haben müsse, um etwas wert zu sein oder Sinn zu stiften, gehört jedoch zum jugendlichen Ich-Bewusstsein, nicht zur Spiritualität selbst.
Spiritualität ist nicht mehr und nicht weniger als die Form, die der unmittelbare Kontakt zur eigenen Lebendigkeit in der jeweiligen Bewusstseinsstufe findet. Im Ich-Bewusstsein findet sie daher vor allem Kontakt zu Konzepten, zu gedachter Lebendigkeit, zu einer individuellen Vorstellung davon. Mit der tatsächlichen inneren Lebendigkeit hat das nichts zu tun. Die kann man nicht denken oder sich vorstellen, in keiner Bewusstseinsstufe. In der vierten Stufe, im Selbst-Bewusstsein, beginnt man von dieser Unmöglichkeit etwas zu ahnen oder zu wissen. Man beginnt sogar, sich damit anzufreunden.
Spiritualität im Gruppenbewusstsein
Das kindliche Gruppenbewusstsein sieht sich den Tatsachen des relevanten Gruppen-Lebens auf eine Weise ausgeliefert, die das eigene Leben als unbedeutend erscheinen lässt. Die Tatsachen des eigenen Lebens sind die Tatsachen der Gruppe und umgekehrt. Spiritualität bietet einen natürliche Zugang zur Gruppe und zugleich eine effektive Möglichkeit, die eigene Ohnmacht gegenüber den gruppenbestimmten Lebenstatsachen zu bannen.
Menschen im Gruppenbewusstsein haben ihre Lebendigkeit, ihr „Beseeltes“, in der Gruppe, genauer: in der Zugehörigkeit zur jeweils relevanten Gruppe. Psychologisch gesehen haben sie ihr Selbst nicht bei sich als Individuum, sondern bei der Gruppe, zu der sie gehören. Spirituell gesehen findet ihr Leben als ein Teil ihrer Gruppe statt, nicht in ihnen selbst als Individuen. Die kirchliche Messe etwa im mittelalterlichen Europa und die mit ihr verbundenen spirituellen Rituale wie Beichte, Abendmahl, Gebet und Segen konnten die Zugehörigkeit zur relevanten Gruppe de facto sicherstellen.
Für Menschen im Gruppenbewusstsein sind dies Tatsachen, die sich aus dem eigenen Erleben unmittelbar ergeben. Sie stellten damals eine ebenso stabile psychische Realität her wie es heute die Wissenschaft tut. Erst für Menschen im Ich-Bewusstsein werden diese Vorgänge zum Aberglauben. Für Menschen im symbiotischen Einheitsbewusstsein hingegen stellte sich die Frage noch gar nicht. Hier ist ihre eigene Lebendigkeit zugleich die Beseeltheit ihrer natürlichen Umgebung und ihr Selbst. Sie sind ungetrennt.
Andersherum ausgesprochen: im symbiotischen Einheitsbewusstsein (etwa in Urgesellschaften) erscheinen die innere Lebendigkeit, das Selbst und die natürliche Umgebung noch als ein und dasselbe. Im Gruppenbewusstsein muss sich mein Selbst bewegen, hin zur Gruppe. In der primären Gruppe, also in der Familie, finde ich mein Selbst bei den Eltern. Meine Lebendigkeit muss nun den Erfordernissen der Zugehörigkeit zur Gruppe entsprechend gefasst werden. Meistens bedeutet das eine Einschränkung oder Unterdrückung meiner Lebendigkeit. Dies mache ich selbst, ohne Zwang von außen, und zwar immer dann, wenn meine eigene Lebendigkeit, das Leben, mit dem ich geboren wurde, meine Zugehörigkeit zur Gruppe gefährden könnte.
Spiritualität und Symptombildungen
Als Fassungs- oder Balance-Mittel entwickle ich Symptome. Sie helfen mir, zur gleichen Zeit zugehörig und lebendig zu bleiben. Mir scheint es inzwischen so, als ob sich die innere Lebendigkeit eines Menschen in seine Symptome einkleide, um in ihnen weiterhin da sein zu können. Im Gruppenbewusstsein sind unsere Symptome die Gestalt unserer Lebendigkeit, wenn unsere Zugehörigkeit zur gerade relevanten Gruppe auf dem Spiel steht.
Im Ich-Bewusstsein hat sich mein Selbst weiterbewegt, hin zu in den Idealen bzw. den Ideen und Bildern, die ich mir von mir selbst als autonomem Ich, von den anderen und von der Welt gemacht habe. Das bedeutet: meine Lebendigkeit muss nun den Erfordernissen der Zugehörigkeit zu meinen Idealen entsprechend gefasst werden. Auch hier bedeutet das eine Einschränkung und Unterdrückung meiner Lebendigkeit, und zwar in noch stärkerem Maße als im Gruppenbewusstsein. Auch dies mache ich selber, ohne Zwang von außen, immer dann, wenn meine eigene Lebendigkeit, das Leben, mit dem ich geboren wurde, die Zugehörigkeit zu meinen Idealen, meinem Selbst- und Weltbild, gefährden könnte.
Als Fassungs- oder Balance-Mittel entwickle ich auch hier Symptome, jedoch in anderer, spiegelverkehrter Form. Die prominenteste Form ist die Neurose, sowohl psychisch als auch somatisch. Die Neurose hilft mir, meinen Idealen treu und trotzdem lebendig zu bleiben. Auch hier scheint mir so, als ob sich die Lebendigkeit eines Menschen im Ich-Bewusstsein in seine Neurose einkleide, um in ihr weiterhin da sein zu können.
Im Ich-Bewusstsein ist Neurose die Gestalt meiner Lebendigkeit, wenn meine Zugehörigkeit zur ins Ideal gewendeten Umgebung auf dem Spiel steht. Das autonome Ich hat seine Lebendigkeit in der Neurose, mehr noch: das autonome Ich gibt es nur als Neurose. Spiritualität ist zwar vorhanden, aber sie ist nicht auf die innere Lebendigkeit bezogen, sondern auf ihr Gegenteil, auf die Konzepte und Vorstellungen über sie.
Der innere Tod oder die spirituelle Wende
Ich komme nochmals auf den Anfang zurück, auf den inneren Tod, bei dem Überlebensmuster, Erwartungen, Glaubenssätze, Selbst- und Weltbilder zugrunde gehen. Mit ihnen stirbt alles, was wir gelernt hatten, um sozusagen die ersten dreißig, vierzig, fünfzig Jahre unseres Daseins zu überleben. Nun wird deutlich: dieser innere Tod ist selbst ein spiritueller Vorgang. Wir begegnen in ihm dem spirituellen Vorgang überhaupt, denn er verbindet uns mit unserer Lebendigkeit. Der innere Tod löst die Verwechslungen mit der äußeren Umgebung, die wir im Mutterleib, in der Kindheit und in der Jugend zum Überleben gebraucht hatten. Der innere Tod verbindet uns gleichzeitig mit unserem Selbst. Er ermöglicht uns so etwas wie Vertrauen zu unserer bodenlosen Lebendigkeit.
Spiritualität ohne Tod gibt es nicht, oder anders gesagt: der innere Kontakt zur eigenen Lebendigkeit ist ohne einen Tod offenbar überhaupt nicht möglich. Zu Beginn des Menschseins, vor vielen hunderttausend Jahren, ging es hier ganz physisch zu, und zwar mit dem Tod der anderen. Die menschliche Spiritualität in ihren Frühstadien entstand wohl beim rituell gefassten gemeinschaftlichen Jagen und den damit verbundenen Opferriten (vgl. Wolfgang Giegerich: Tötungen. Gewalt aus der Seele).
Die menschliche Spiritualität erschien als ein erstes Erwachen des menschlichen Bewusstseins im Sinne des „Ich bin“ im Angesicht des absichtlich verursachten Todes anderer, im Angesicht des Tötens. In ihren Frühstadien sind Spiritualität und Bewusstsein praktisch dasselbe. Das rituelle Töten unterbricht das totale Eingelassensein der frühen Menschen in ihre natürliche Umgebung und ruft damit notwendigerweise das „Ich bin“ hervor, und zwar in Gestalt des Symbiotischen Einheitsbewusstseins.
Das bedeutet: mit dem inneren Tod im Übergang vom Ich- zum Selbst-Bewusstsein, wie ich ihn gerade zu beschreiben versucht habe, kommt Spiritualität zu sich, im Sinne des Aufwachens aus einer Art Ohnmacht. Sie kommt wieder dorthin, wo sie einst begonnen hat. Gleichzeitig hebt sie ihren Anfang auf und verwandelt ihn aus einem äußeren in einen inneren Vorgang. Vielleicht ist Spiritualität nichts anderes als diese menschliche Fähigkeit: das Äußere in das Innere zu verwandeln, es also zu transzendieren. Dies tut sie in jeder Bewusstseinsstufe auf andere Weise, während sie die Gestalt der jeweiligen Bewusstseinsstufe mit herausbildet.
Im LIP liegen sich die Bodenanker für das Symbiotische Einheitsbewusstsein und für das Selbst-Bewusstsein gegenüber. Das erwachsene Selbst-Bewusstsein nimmt das Symbiotische Einheitsbewusstsein wieder auf und gibt ihm eine genau umgekehrte Gestalt: wir sind nicht mehr wie im Mutterleib auf die Umgebung bezogen, sondern auf unser Inneres, nicht mehr eingelassen in eine natürliche Umgebung, sondern in unser bodenloses Selbst.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen: im Ich-Bewusstsein bezieht sich Spiritualität auf unsere Vorstellungen und Konzepte von ihr, auf das, was wir über sie denken. Im Gruppenbewusstsein lebt die Spiritualität im Gefühl, im symbiotischen Einheitsbewusstsein im körperlichen Vollzug. Spiritualität kann die jeweilige Bewusstseinsstufe nicht verlassen, es sei denn, sie sprengt sie. Danach kann man nicht wieder zurück.
Spiritualität ist das Sprengmittel für Bewusstseinsstufen. Sobald man sich auf sie einlässt, sobald man also den Fokus auf die innere Lebendigkeit legt, mit der wir geboren sind, beginnt die aktuelle Bewusstseinsstufe Risse zu bekommen. Sie hört auf, weiterhin fraglos als das gültige Format für die Selbst- und Fremdwahrnehmung zu funktionieren. Eine Spiritualität, die sich auf die innere Lebendigkeit bezieht, wird zum Geburtshelfer in das nun angemessene Bewusstsein, in einen geweiteten inneren Raum, ins Offene.
Lieber Thomas,
danke für diesen Artikel. Er beschreibt sehr klar und „einfach“ die Zusammenhänge zwischen Spiritualität und Bewusstseinsentwicklung. Für mich schließt dieser Text auch eine Lücke, die Advaita-Literatur meist hinterlässt. Er gibt dem Leben und dem Tod in jeder Lebensphase seinen Sinn zurück und lässt mich hier und jetzt so wie ich bin weiter, offener und lebendiger werden.
Danke.
Lieber Ralf, danke für Deinen Kommentar. Ich freue mich!
Ich fand meine Spiritualität in der Hinwendung zu Gott in großer Not.
Mein Mann war von der Schulmedizin aufgegeben worden. Als mir das gesagt wurde, kam bei mir aus tiefster Überzeugung: „Das ist für meinen Mann nicht vor gesehen!“
Gott zerstört seine Schöpfung nicht, denn er sah an alles was er gemacht hatte, und siehe es war sehr gut, und in IHM leben weben und sind wir.
Daran hielt ich fest.
Die sogenannte materielle Schöpfungsgeschichte erkannte ich als Mythe. Denn in Wahrheit gibt es nicht einen Grund für eine erneute Schöpfung des Menschen. Der Mensch ist und bleibt ewig Gottes geistiges vollkommenes Kind. Mein Mann ist gesund, die Ärzte stehn vor einem Rätsel.
Alles ist LIEBE
Helma aus Landsberg
Vielen Dank!